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30 Jahre Mauerfall Von Jammerossis, Besserwessis und Klischees

Vor 30 Jahren fiel die Mauer, am 3. Oktober wird die Deutsche Einheit gefeiert. Wie steht es um Ost und West heute? Stimmt es, dass die Gräben wieder tiefer geworden sind?

Von Caroline Bock, dpa 01.10.2019, 13:08

Berlin (dpa) - Wer mit dem Fahrrad durch Berlin fährt, spürt an einem kleinen Holpern, dass die Stadt 28 Jahre lang von einer Mauer geteilt war. Eine Schwelle mit Pflastersteinen zeichnet die Grenze zwischen Ost und West nach.

Ein Blick auf die Straße, dann der Gedanke an einen berühmten Satz: Als vor 30 Jahren die Mauer fiel, hat Willy Brandt gesagt, dass jetzt zusammenwächst, was zusammengehört.

Danach war viel von der "Mauer in den Köpfen" die Rede. Die 90er Jahre waren die Zeit der Klischees: vom Jammerossi, der Opfer der Besserwessis wurde, der sich die "neuen Länder" einverleibte. Seit dem Ende der DDR ist im Osten alles anders, im Westen wenig. Wer heute nach Köln oder Mainz fährt, könnte denken: Das ist die alte BRD, aber mit Latte Macchiato. Ex-Innenminister Thomas de Maizière brachte es in einer ZDF-Doku so auf den Punkt: "Für die Ostdeutschen hat sich mit der Wende alles geändert, für die Westdeutschen nur die Postleitzahl."

Fast alle Ostdeutschen (95 Prozent) waren laut einer Umfrage schon im Westen. Für nicht wenige Westdeutsche ist der deutsch-deutsche Tourismus aber eine Einbahnstraße, jeder Fünfte war noch nie im Osten. Wobei man das einschränken sollte: Die DDR war viel kleiner als die BRD, im ganzen Osten leben etwa so viele Menschen wie in Nordrhein-Westfalen. Zu den Klischees: Ein Drittel der Wessis sagt, dass Ostdeutsche immer jammern. Das sagt allerdings auch ein Viertel der Ostdeutschen über sich selbst.

Das Klischee vom Besserwessi hält sich ebenfalls nach wie vor, genauso wie der nostalgische Blick auf den Osten, wenn es um Solidarität und Nachbarschaft geht.

Typisch ist, was Ilka Bessin, früher die Comedy-Figur Cindy aus Marzahn, in einem dpa-Interview erzählte. Sie wuchs in einem Neubaublock im brandenburgischen Luckenwalde auf. "Wie meine Mutter immer sagt: Eine Hand wäscht die andere, zwei waschen ein Gesicht. So war das auch", erinnert sich die 47-Jährige. "Da hat man zusammen gefeiert, zusammen gesessen und dann hat man den Partykeller zusammengebaut, da hat der ganze Block zusammen gefeiert." Auf das DDR-System generell blickt Bessin anders: "Politisch, da brauchen wir gar nicht drüber reden. Da vermisse ich nichts."

Was vielen im Osten nicht bewusst scheint: Dörfliches Miteinander und Oma-Tugenden wie Vorräte horten oder Einkochen hat es auch im Westen früher mehr gegeben. Es war vielleicht nicht so überlebensnotwendig wie in der DDR.

Gerade in jüngster Zeit heißt es oft, die Gräben zwischen Ost und West würden wieder tiefer. Die Erfolge der AfD auf Ostseite werden damit erklärt, dass die Partei den Abgehängten und der nach der Wende gedemütigten DDR-Seele eine Stimme gibt, für die Westseite gibt es für AfD-Erfolge keine spezielle Lesart.

Wie sieht es heute mit den Befindlichkeiten aus? Nachgefragt bei zwei Autoren aus West und Ost.

Die Schriftstellerin Tanja Dückers (50) kann sich gut an das Lebensgefühl in West-Berlin erinnern, als die Stadt noch eine schwer zugängliche Insel war. "Ich habe 21 Jahre hinter dieser Mauer gewohnt. Erst nachdem die Mauer gefallen ist, habe ich richtig begriffen, wie absurd das war", erzählt sie. "Für mich gab es so einen retrospektiven Schreck, und den habe ich tatsächlich vor der Wende nicht gehabt, weil ich nichts anderes kannte. In den 90ern habe ich dann oft gedacht: Bin ich da wirklich aufgewachsen?"

Sie weiß, wie unterschiedlich sich Ost und West wahrnehmen. Klar werde sie noch als Wessi angeguckt: "Das ist nicht unbedingt negativ, sondern eher ein Distanzmoment", sagt Dückers. "Du bist aus dem Westen", das bedeute eigentlich erst mal nur: "Du bist anders."

Für ein Missverständnis auf Ostseite hält sie, dass es den Westlern immer gut gegangen sei und sie immer Geld gehabt hätten. "Es ist eine Überschätzung der Situation des Westens. Vom Westen her betrachtet hat man es individualbiografisch unterschätzt: Nicht jeder, der bei der SED war, war ein Monster."

Dückers lebt im Prenzlauer Berg, also im Osten Berlins. Sie hat Verständnis für die Schicksale nach dem Ende der DDR, das für viele nicht nur Chancen und Freiheit, sondern auch den Verlust von Arbeitsplätzen und Gewissheiten brachte. "Ich stelle mir zum einen vor, wie man das umgekehrt erlebt hätte. Zum anderen ist es psychologisch so, dass man immer die frühere Zeit verklärt, vor allem die Kindheit und das Aufwachsen in der Zeit, in der man gesund und munter war."

Was Ostdeutsche über das dörfliche Miteinander von früher erzählen, kennt Dückers aus BRD-Zeiten selbst. Ihr Buch "Mein altes West-Berlin" kam im Osten gut an, weil viele merkten: Die Westhälfte, das war nicht nur Jeans, KaDeWe und Autos von Mercedes. Sie hörte von ostdeutschen Lesern: "Wir hatten uns das alles glänzender und schöner vorgestellt. Aber wie du das beschreibst, mit den Kohleöfen, der Armut, den Ratten, Tauben, dem Dreck und den komischen Leuten - das war wie bei uns." Dückers fühlt sich Ost-Berlin näher als Bayern oder Köln. "Westdeutschland ist nicht mein Land."

Was die Erfolge der AfD angeht: "Irgendwie stört mich die Haltung, zu glauben, das Böse sitzt nur im Osten von Deutschland." Sie verweist dabei auf die hohen Zustimmungswerte für die AfD in Bayern und die Neonazi-Szene in Dortmund.

Dass sich Gräben zwischen Ost und West vertiefen, findet sie etwas populistisch als Aussage. "Ich bin anderer Meinung. Ich sehe, dass sehr viele Ehen zwischen Ost und West geschlossen werden und sich viele Kinder überhaupt nicht mehr darüber definieren, wo die Eltern herstammen. Ich glaube aber, dass man die Zeit unterschätzt hat, die dieses Zusammenwachsen braucht." Ihrer Meinung nach spielt eine andere Kluft in Deutschland eine größere Rolle als die zwischen Ost und West: die zwischen Stadt und Land. "Man sollte eigentlich mehr unterscheiden zwischen strukturstarken und strukturschwachen Regionen."

Der in Dresden geborene Schriftsteller Ingo Schulze (56, "Adam und Evelyn", "Simple Storys") hat in vielen Büchern Ost-West-Geschichten erzählt. "Nach meiner Erfahrung konnte man Ende der 90er Jahre gelassener über den Osten sprechen als heute", sagt er. "Dann kam eine Politik, für die Hartz IV zum Synonym geworden ist und die tatsächlich Armut säte, darauf folgte die Finanzkrise von 2008." Die habe das jetzige System in Frage gestellt.

Die allergrößten Meinungsverschiedenheiten hat Schulze auch mit anderen Ostlern. "Ost und West sind ja in sich nicht homogen. Und natürlich kann und muss man zur Erklärung von Unterschieden bis in die Zeit der Reformation und der Bauernkriege zurückgehen oder noch weiter. Nichts ist vergangen. Das vorausgeschickt würde ich sagen: Die Mehrheit im Osten war 1990 auf eine schon fast kindliche Art und Weise bereit, alles vom Westen zu übernehmen, vom Westen zu lernen, es genau so gut zu machen."

Er sei überzeugt, dass die Erfahrungen von Beginn der 90er Jahre keinesfalls weniger prägend gewesen seien als die Erfahrungen in der DDR. Diese hätten ja auch die Erfahrung gebracht, ein System friedlich ändern zu können. Natürlich werde die Herkunft immer eine Rolle spielen, findet Schulze. Es komme halt auf den Kontext an. "Die Frage ist, wie damit umgegangen wird. Und ob immer nur die eine Seite infrage gestellt wird."

Was Ingo Schulze sagt, findet sich auch in der Ost-West-Geschichtsschreibung: Für die Museen ist der Blick auf die 90er Jahre wichtiger geworden. So etwa im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, wo die Dauerstellung deswegen umgestaltet wurde. "Man hätte viel mehr sprechen müssen, auch genauer hinhören, und die Nöte und Sorgen der Menschen ernst nehmen müssen", sagt Direktor Jürgen Reiche. Das sei heute immer noch ein Grundproblem. Man rede zu sehr übereinander und nicht miteinander. Deswegen gibt es in dem Leipziger Haus viele Diskussionsrunden.

Ihn stört aber auch das "populistische Getöse": wenn die Treuhand, die die DDR-Betriebe privatisierte, als "Schlachthaus Europas" bezeichnet wird und wenn von einer Kolonialisierung des Ostens die Rede ist. "Da werden alle Register gezogen. Das drängt die Menschen im Osten vielfach in eine Opferrolle, die nicht angebracht ist. Von Honecker wurden wir über den Tisch gezogen, und heute ist es genauso, hört man immer wieder. Dagegen muss man angehen."

Ähnlich kritisch sieht Reiche es, wenn pauschal über den Osten im Allgemeinen oder Sachsen im Besonderen geschimpft wird. Er nennt es "Ost-Bashing". Gerade das liberale und boomende Leipzig würde da manchen angereisten Fußballfan aus dem Westen positiv überraschen.

Die Unterschiede zwischen Ost und West sind Reiche nach wie vor bewusst: Dass die Leute im Westen durchschnittlich mehr verdienen und mehr erben oder dass es kein DAX-Unternehmen im Osten gibt. Grundsätzlich findet er: Man solle ein bisschen den Ball flach halten, aber Probleme ernst nehmen, Ungerechtigkeiten bekämpfen und sich um die Menschen kümmern.

Website Ingo Schulze

Website Tanja Dückers

Zeitgeschichtliches Forum Leipzig