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Provokanter Russland-Erklärer Promi-Geburtstag vom 19. September 2017: Viktor Jerofejew

Sein Aufstieg begann mit einem "literarischen Vatermord". Der Schriftsteller Viktor Jerofejew hat sich an der Sowjetunion wie am neuen Russland abgearbeitet. Nach sieben Lebensjahrzehnten schwankt er zwischen Sorge um sein Land und Hoffnung.

Von Friedemann Kohler, dpa 18.09.2017, 23:01
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew wird 70 Jahre alt. Foto: Jens Kalaene
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew wird 70 Jahre alt. Foto: Jens Kalaene dpa-Zentralbild

Moskau (dpa) - Darf man so schreiben? "Russen muss man mit dem Stock prügeln. Russen muss man erschießen. Russen muss man an die Wand klatschen. Sonst hören sie auf, Russen zu sein."

Wegen dieses Zitats aus seinem Buch "Enzyklopädie der russischen Seele" ist der Schriftsteller Viktor Jerofejew 2010 angezeigt worden. Der Vorwurf: Russophobie. Jerofejew hatte seine liebe Not zu erklären, dass nicht er so denkt, sondern die erfundene Hauptfigur des Buches.

Trotzdem ist es natürlich eine Spitze gegen die Grausamkeiten der russischen Nationalgeschichte. Mit Provokationen, postmoderner Ironie und Fantasie deutet Jerofejew, der am 19. September 70 Jahre alt wird, den russischen Lesern seit Jahrzehnten ihre Welt. Auch für Europa ist der Autor mit Romanen wie "Die Moskauer Schönheit" und "Die Akimuden" zum kritischen Erklärer der Zustände in Russland geworden.

Jerofejews Werke setzen ein hohes Maß an Toleranz voraus, doch die ist derzeit ein knappes Gut in der Kulturpolitik unter Kremlchef Wladimir Putin. Nationalpatriotisches steht hoch im Kurs; dafür hält die Justiz den Theatermacher Kirill Serebrennikow wegen Betrugs unter Hausarrest; orthodoxe Fundamentalisten laufen Sturm gegen einen Film über Zar Nikolaus II., den Streifen "Mathilda" von Alexej Utschitel.

Mit dem Fall Serebrennikow sei der liberalen Intelligenz "der Krieg erklärt worden", sagte Jerofejew der Deutschen Presse-Agentur in Moskau. "Wenn das so weitergeht, wird das schwerwiegende Folgen haben." Hoffnung mache ihm, dass diesmal auch Künstler ihre Stimme erhoben hätten, deren Meinung dem Kreml wichtig sei. Er selbst gehört in der Moskauer Literaturszene zu den wenigen, die mit den Machthabern wie mit den Dissidenten auskommen.

Mit der Stalin-Diktatur seiner Kinderjahre will er die Repression im modernen Russland trotzdem nicht vergleichen. "Das Leben unterscheidet sich vom Leben in der Sowjetunion", sagt Jerofejew.

Sein Aufwachsen in einer sowjetischen Familie, die allmähliche Loslösung von der Diktatur hat Jerofejew in dem hochgelobten Roman "Der gute Stalin" (dt. 2010) verarbeitet. Vater Wladimir Jerofejew war Stalins Dolmetscher, Mitarbeiter von Außenminister Wjatscheslaw Molotow, später Kulturattaché in Paris, Botschafter in Österreich.

Und er wäre noch höher aufgestiegen, wenn - ja wenn der behütete Sohn nicht beschlossen hätte, Autor zu werden und 1978 einen Beitrag im Untergrund-Almanach "Metropol" zu veröffentlichen. Das war, wie Jerofejew schreibt, ein "literarischer Vatermord". Der Aufstieg des Sohnes zum Schriftsteller und Dissidenten bedeutete den Ausschluss des Vaters aus der sowjetischen Elite.

Auch mit einem anderen Jerofejew musste es der Neuling aufnehmen, mit dem Schriftsteller Wenedikt Jerofejew (1938-1990). Der Verfasser des Trinker-Poems "Die Reise nach Petuschki", eines Klassikers der neuen Literatur in Russland, war nicht begeistert über den Namensvetter. Bis heute werden die beiden verwechselt. "Doch das war ein wichtiger Ansporn, ein ernstzunehmender Schriftsteller zu werden", sagt Viktor Jerofejew. "Ich bin mehr Europäer als Wenedikt. Aber seine Position hat mir geholfen, Russland besser zu verstehen."

In Europa liebt Jerofejew besonders Frankreich, das Land seiner Jugend, und Polen, das Land seiner ersten Frau. Aber auch Deutschland hält er seit langen Jahren die Treue. "Ich schätze an Deutschland die Offenheit für andere Kulturen", sagt er.

Gerade die deutschen Kritiken seien für ihn ein Gradmesser, ob ein Buch gelungen sei. Nun, deutsche Kritiker haben den Erkenntnisgewinn seiner Werke über Russland oft gelobt. Aber sie haben auch seinen Hang zu Weitschweifigkeit und drastischen Sexszenen bemängelt.

Zum 70. Geburtstag bekommt Jerofejew zwei besondere Geschenke. Sein neues Buch "Rosowaja Mysch" (Rosa Maus) wird erscheinen. "Das ist ein Roman über ein elfjähriges russisches Mädchen an der Grenze zwischen Kindheit und Jugend, zwischen Alice im Wunderland und Lolita." Und noch vor Jahresende wird der Schriftsteller zum dritten Mal Vater.

So ist er auch nicht generell pessimistisch, was die Zukunft Russlands angeht. "Die jetzige Entwicklung bremst das Land, vielleicht sogar für eine Generation." Aber einst werde Russland "ein Partner, keine Bedrohung" mehr sein für Europa.