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Rauschebart ade Die letzte Weihnachtsfrau

Nach 20 Jahren als Rauschebart hängt die Hohenwarterin Karin Voelskow Heiligabend den roten Mantel an den Nagel.

Von Juliane Just 24.12.2016, 06:00

Wenn sie Heiligabend ihren Mantel überstreift, den kleinen Glockenreif an ihren Gürtel hängt, den Rauschebart an ihrem Mund kitzeln fühlt und mit ihrem geschmückten Schlitten durch die Landschaft stapft, wird es das letzte Mal sein. Karin Voelskow, die unter dem roten Plüsch steckt, hat das Kostüm 20 Jahre lang mit Leben erfüllt. Zahlreiche Kinder rund um Hohenwarthe rutschen jedes Jahr zum Heiligabend auf ihrem Hosenboden hin und her, bis sie endlich klingelt. Ihre letzte Weihnachtsrunde hat sie akribisch vorbereitet.

Fernab von Rute und Rauschebart würde man hinter der herzlichen Hohenwartherin keinen Weihnachtsmann vermuten. Sind es ihre blauen, vertrauenserweckenden Augen, die den Kleinen ihre Angst nehmen können? Ein gold-glitzernder Schal gibt der 72-Jährigen, die zahlreiche rührende und lustige Geschichten in petto hat, eine weihnachtliche Aura. „Es gab einen Bengel, der mir meinen mit Geschenken bepackten Schlitten geklaut hat“, erzählt Karin Voelskow lachend. Außerdem erinnere sie sich an einen Jungen, der – ganz untypisch – keine Schokolade mochte und sich Gurken wünschte. Also brachte ihm der Weihnachtsmann einen Eimer Spreewaldgurken. Sein Wunsch geschehe.

Während Karin Voelskow von ihren Erlebnissen berichtet, springt sie immer wieder auf, gestikuliert mit den Händen und lacht beherzt. So einen Weihnachtsmann hätte jedes Kind gern. Doch die Hohenwartherin hat sich entschieden, ihre Weihnachtsrunde in diesem Jahr zum letzten Mal abzustapfen. „Zwei Jahrzehnte bin ich jährlich in die Rolle geschlüpft und habe sie mit Leben gefüllt. Ich bin noch gesund und munter, aber es wird Zeit für einen Nachfolger“, ist sie überzeugt.

Nicht nur an das letzte Mal im Weihnachtskostüm wird sie sich wohl noch lange erinnern, sondern auch an das erste Mal. Zum 20. Geburtstag wünschte sich ihre Tochter den Auftritt eines Weihnachtsmannes – wie an Kindheitstagen. „Da habe ich mich nicht lumpen lassen, mir ein Kostüm besorgt und meinem Kind diese Bitte erfüllt“, erzählt Karin Voelskow lachend. In Magdeburg fing damit alles an. Später zog die Familie nach Hohenwarthe. Aus der nostalgischen Sehnsucht ihrer Tochter wurde ein Hobby. Die gelernte Kindergärtnerin, die bis dato gelegentlich in ihr Kostüm geschlüpft war, rief in Hohenwarthe eine Tradition ins Leben, die bis heute fortlebt. Als einzige Weihnachtsfrau weit und breit beschenkt sie die Kinder der Region.

Wo ein Weihnachtsmann auftaucht, sollte es auch einen Briefkasten für Wunschzettel geben – so der Gedanke. Kurzerhand zimmerte ihr Mann ein Häuschen in Vogelhaus-Optik, färbte ihn rot und grün ein und versah ihn mit den Lettern „Wunschbriefkasten“. Ein Vorhängeschloss, zu dem nur Karin Voelskow einen Schlüssel besitzt, schützt die Weihnachtspost der Kinder vor neugierigen Blicken. Vom ersten Tag landeten Wünsche, Bitten und Hoffnungen in dem Häuschen. Sogar Erwachsene hinterließen Briefe. „Ich dachte, diese Aktion geht irgendwann unter, aber sie läuft bis heute erfolgreich“, sagt Karin Voelskow. Ihr Fundus umfasst 600 Wunschzettel. Sie beantwortet in Fleißarbeit jede schriftliche Bitte persönlich – wie es sich für den Weihnachtsmann gehört.

Die Zettel, die die Kinder geschrieben haben, landen jedoch nicht im Müll, sondern in einem Akkordeonkoffer. Wenn Karin Voelskow diesen die Treppen hochhievt und öffnet, wird der Koffer mit der Aufschrift „Wunschzettel“ zu einer Zeitkapsel. Aus dem Blätterstapel, den sie mit zwei Händen geradeso tragen kann, zieht sie einige Briefe heraus. Mit den Zeilen „Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir ...“ beginnt fast jeder Wunschzettel – vor 20 Jahren und auch heute noch. „Die Kleinen haben sich mitunter so viel Arbeit gemacht, ich konnte die Wunschzettel nicht wegschmeißen“, sagt Karin Voelskow.

Nicht nur die Anfangszeilen sind gleich geblieben, sondern auch einige Wünsche, wie die Hohenwartherin erzählt: „Frieden steht immer noch als Wunsch in vielen Briefen.“ Über die Jahre hat sich aber auch einiges geändert – Spielzeuge sind heutzutage weitaus technischer und haben mitunter lange Namen. Bei einem „Lego Star Wars Tie Striker“ muss auch der Weihnachtsmann nachschlagen.

Der unerschütterliche Glaube an den Weihnachtsmann in den ersten Lebensjahren bewegt die Kinder manchmal zu Wünschen, die Karin Voelskow ans Herz gehen. „Ein Junge, dessen Eltern getrennt lebten, wünschte sich von mir, dass Mama und Papa Heiligabend mit ihm als Familie verbringen“, erzählt sie. Ein Wunsch, bei dem ihr die Hände gebunden sind. Auf zwischenmenschliche Beziehungen hat der Weihnachtsmann nun einmal keinen Einfluss. Auch, wenn Karin Voeskow bei bei einer Bitte in der Wunschzettelsammlung schmunzeln muss: „Ein Mädchen wünschte sich mehrere Jahre in Folge bis zu ihrem zwölften Lebensjahr ein kleines Geschwisterchen.“

Wenn heute die Familien um den Weihnachtsbraten herumsitzen, beginnt für Karin Voelskow die letzte Weihnachtsrunde. Von 14.30 bis 20 Uhr ist sie zu Gast bei den Hohenwarther Kindern und mimt den Weihnachtsmann. Der samtene Mantel, den ihr eine Nachbarin nähte, wird sie dann wieder ins Schwitzen bringen in den geheizten Wohnstuben. Ihr liebevoll hergerichteter Schlitten wird auch in diesem Jahr nicht auf einer Schneedecke entlanggleiten. Doch fehlen darf er nicht. „Schlitten, Bart und Glockenring sind die Utensilien, die ich seit meinem ersten Auftritt bei mir habe“, sagt Karin Voelskow nicht ohne Stolz.

In all den Arbeitsjahren hat sie den Kindern niemals offenbart, wer sich hinter dem Bart verbirgt. „Durch meine tiefe Stimme gehe ich als Mann durch“, sagt Karin Voelskow. Doch einmal wurde ihr genau diese markante Stimme fast zum Verhängnis. Bei einer Veranstaltung zupfte ein Junge am Ärmel seines Vaters und sagte zu ihm: „Die Stimme klingt nach dem Weihnachtsmann.“ Karin Voelskow wusste vor Schreck nicht, was sie sagen soll. „Es waren 35 Grad im Schatten und der Bursche erkennt mich doch tatsächlich an der Stimme“, sagt sie lachend. Die Erwachsenen redeten dem Knirps seine Entdeckung aus – eine Frau könne doch kein Weihnachtsmann sein.

Bevor sie heute die Geschenke bringt, hat Karin Voelskow wie in Schulzeiten gepaukt. Zu jedem Kind gibt es eine Lernliste. Stärken und Schwächen notiert sie, ein Bild ist angeheftet. Vorab hat der Weihnachtsmann selbstverständlich alles genau mit den Eltern abgesprochen. Woran kann das Kind noch arbeiten? Was kann es besonders gut? Was kann der Weihnachtsmann den Kleinen raten?

Wenn sie nach den vielen Stunden als Weihnachtsmann durstig und verschwitzt nach Hause kommt, dann wartet ihr Mann mit Kartoffelsalat und Wienern auf seine ausgehungerte Frau. Leuchtende Augen hat sie dann von den Arbeitsstunden vorher. „Ich hoffe, dass sich ein guter Ersatz für die Weihnachtsmannstelle findet“, sagt sie. Den roten Mantel würde sie vererben, damit er nicht ungenutzt im Keller hängt.

Doch die Hohenwarther wollen die lebenslustige Rentnerin nicht gehen lassen. Viele bitten Karin Voelskow, den Rauschebart vorerst noch nicht abzulegen. Was geschieht mit der schönen Tradition, wenn sich kein Nachfolger findet? Wer bringt den Kindern dann die Geschenke? Wer soll nach so vielen Jahren in ihre Fußstapfen treten und die Rolle so mit Leben füllen wie sie? Bisher hat niemand in dem Ort eine Antwort gefunden. Verschmitzt lächelt die 72-Jährige: „Viele Künstler feiern doch ein Comeback. Wer weiß.“