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Geschichte Wo französische Kriegsgefangene weinten

Der Burger Bodo Reimann teilt mit der Volksstimme Erinnerungen an seine Kindheit in der Burger Waldhalle.

Von Thomas Skiba 09.05.2019, 05:00

Burg l Nähert sich der Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, kommt für Menschen, die in diesen Jahren aufwuchsen, oft die Zeit des Erinnerns. Viele Zeitzeugen, also Frauen und Männer, die sich bewusst an Geschichten und Geschehnisse in ihrem Heimatort erinnern, gibt es nicht mehr.

Bodo Reimann, Jahrgang 1940, in Burg geboren und aufgewachsen, durchstöberte jetzt einen Karton mit alten Bildern. „Den habe ich von meiner Mutter bekommen“, sagt er. Beim Betrachten der Schwarz-weiß-Fotos mit der für die damalige Zeit typischen hellen Umrandung sieht sich Bodo Reimann wieder: Als kleiner Junge in kurzen Hosen und mit neugierigem Blick. Ein Bild hat es ihm angetan: Er, auf einer Mauer sitzend, daneben zwei Männer in einer fremden Uniform. „Hiervon weiß eigentlich keiner mehr“, glaubt Reimann und erzählt von zehn französischen Kriegsgefangenen, die im Saal des Ausflugslokals „Waldesruh“, besser bekannt als die Waldhalle, untergebracht waren.

Bodo Reimann wurde in der oberen Etage der Waldhalle geboren und erlebte die französischen Soldaten von klein an als Teil seiner Kinderwelt. Ab Ende 1944 sind ihm seine eigenen Erinnerungen präsent, auch die Erzählungen seiner Mutter im Kreis der Familie haben diese Episode seines Lebens wach gehalten.

„Warum weinen Männer?“. Diese Frage stellte der kleine Bodo Reimann damals seiner Mutter. Und wenn er sie heute wieder stellt, sieht man bei ihm in traurige Augen. Damals, das war der 16. Januar 1945. „Die Franzosen schauten vom Hundesportplatz aus zu, wie Magdeburg bombardiert wurde und hatten Tränen in den Augen.“ Für einen Jungen von knapp vier Jahren unverständlich. Männer weinen doch nicht!

Bei der Ortsbegehung mehr als 70 Jahre danach zeigt Reimann in Richtung Süden: Von dem Standort aus konnte man in den Morgenstunden des 16. Januar den Feuersturm über der Stadt an der Elbe sehen. „Es war, als ginge dort die Sonne auf.“

Hier, auf dem alten Burger Hundeplatz, bauten die Franzosen für sich und die Familie Reimann einen Erdbunker und mehrere Splitterschutzgräben. Laut seiner Mutter kümmerten sich die Franzosen um den Schutz, als die nächtlichen Einflüge der britischen Royal Air Force begannen, die mit ihren Lancaster-Langstreckenbombern Berlin bombardierten. Ab 1943 flogen amerikanischen Bomberpulks nach Mitteldeutschland. Reimann beschreibt ihren Anblick. „Kondensstreifen durchzogen den Himmel und ich blickte staunend auf.“

Mit ihren zweimotorigen B-25 und den viermotorigen B-17 zerstörten sie nicht nur Berlin – jetzt trafen die Bomben auch die kleineren Städte. Der Krieg hatte Deutschland vollends eingeholt. Gab es Fliegeralarm, weiß der Burger, „schnappte meine Mutter eine fertig gepackte Tasche und mich“, dann wartete sie, zusammen mit den Franzosen, in dem Bunker auf die Entwarnung. Was Reimann bis heute verwundert: „Die Franzosen weinten um Magdeburg, um die sinnlose Zerstörung dieser in ganz Europa bekannten Stadt.“ Und das, obwohl die Franzosen Kriegsgegner waren, sagt er.

Nach den Worten des Vorsitzenden des Fördervereins Mahnmal Kriegsgefangenenlager STALAG XI A gebe es bis jetzt keine aktenkundigen Hinweise darauf, „dass die französischen Kriegsgefangenen in der Burger Waldhalle zu dem Stammlager für Mannschafts- und Unteroffiziersdienstgrade XI A (STALAG XI A Altengrabow) gehören“.

In Burg gab es elf sogenannte Kommandos des Stammlagers, Organisationseinheiten mit der Ordnungsnummer 77, nach Nationalitäten gegliedert. „So stand vor der Ordnungsnummer, in der Russen zusammengefasst waren, ein R“, sagt Vereinsmitglied und Gymnasiallehrer Dr. Paul Kannmann aus Burg.

Unter anderem prüfte Kannmann Abschriften der Akten des Außenlagers aus dem französischen Nationalarchiv in Paris. Zu jedem Kommando wird in den Akten die Nationalität angegeben. „Bei den Kommandos vier und fünf fehlen sie“, merkt Kannmann an. Vielleicht ein Hinweis zu den kriegsgefangenen Franzosen in der Burger Waldhalle?

Die Kriegsgefangenen wurden, mal zu zweit, mal zu zehnt, bei Bauern und Firmen als Arbeitskräfte eingesetzt. Ihnen zur Seite gestellt wurde ein Wachmann, meist ein Soldat mit einem „Heimatschuss“, also einer Verwundung, die ihn frontuntauglich machte. Für Sicherungs- und Bewachungszwecke reichte der Gesundheitszustand jedoch noch aus. „Auch unsere Franzosen hatten einen Bewacher – Lehmann, genannt Lahm-Mann wegen seines steifen Beins“, so Bodo Reimann.

Kurz bevor die Russen in Burg einzogen, flüchteten die Franzosen und setzten bei Rogätz über die Elbe, in amerikanisch besetztes Gebiet. „Meine Tante Ursel ging mit und zeigte ihnen den Weg“, erinnert sich Reimann.

Mit dem Ende des Krieges musste Bodo Reimann sein Geburtshaus verlassen, nicht allzu weit entfernt, in der alten Oberförsterei, mitten im Bürgerholz, fand er ein neues Zuhause, „ohne Strom und fließend Wasser – aber mitten in der Natur“.

Das kleine Kriegsgefangenenlager und die Franzosen gerieten schnell in Vergessenheit. Die Menschen mussten auch in Burg mit dem Chaos der Nachkriegsjahre zurechtkommen, da blieb kaum Zeit für das was „gestern“ war.

Vielleicht weiß ja noch der eine oder andere Burger etwas zu den Franzosen in der Waldhalle. „Eventuell ein Arbeitgeber“, sagt Dr. Paul Kannmann. Zeitzeugen können sich gern an den Förderverein wenden, merkt er an. „Jedes Foto, jede Geschichte, jeder Hinweis hilft hier weiter.“