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Jugendwerkhöfe Blick in die Seele der Heimkinder

Ein Uni-Projekt befasst sich damit, was Kinder und Jugendliche in Heimen und Werkhöfen der DDR in Burg und Genthin erlebt haben.

Von Thomas Pusch 14.02.2021, 00:01

Burg/Leipzig l Fast eine halbe Million Kinder und Jugendliche lebten zwischen 1949 und 1989 in Heimen und Jugendwerkhöfen der DDR. Der Burger Jugendwerkhof ist mit 240 Plätzen der größte gewesen. Aus Sicht vieler Wissenschaftler steht die Aufarbeitung der Erlebnisse in diesen Einrichtungen und der Folgen für das weitere Leben noch ziemlich am Anfang. Der Forschungsverbund Testimony soll einen Beitrag zur Aufarbeitung leisten. Für ein Projekt der Universität Leipzig werden Zeitzeugen aus dem Jerichower Land gesucht.

Während aus historischer Sicht die Geschichte der Jugendwerkhöfe schon sehr viel betrachtet worden sei, gebe es vor allem Nachholbedarf im psychologischen Bereich, sagte Projektleiterin Prof. Heide Glaesmer.

In zwei Stufen nähert sie sich den Menschen, die einstmals in einer der Einrichtungen zu Hause waren. Wer sich bei der Universität meldet, bekommt einen Fragebogen zugeschickt. „Darin interessiert und auch, was danach passiert ist“, erklärte sie. Manche könnten über die Vergangenheit sprechen, andere fühlten sich auch heute noch stigmatisiert. Auch wie sie von der Gesellschaft behandelt worden seien, spiele eine Rolle.

Dabei hat die Psychologin bereits festgestellt, dass sich ein äußerst differenziertes Bild ergibt. Menschen, die Ende der 1940er bis Anfang der 1950er Jahre in einer Einrichtung gelebt hätten, hätten oftmals kein Verständnis für die Skandalisierung der Heimbetreuung in der DDR. Wenn dies eben nicht zu ihrer Erfahrung gehörte, sollte dies auch Niederschlag finden. Auf der anderen Seite sei es genauso wichtig, dass die Schicksale der Opfer gewürdigt, brutale Erziehungsmethoden angeprangert würden.

Der zweite Schritt sind dann persönliche Interviews mit einer kleineren Gruppe. Und genau der wird durch die Corona-Einschränkungsmaßnahmen erschwert. „Es ist ein ganz sensibles Thema, viele haben seelische Schäden davongetragen, darüber möchte ich mit ihnen nicht am Telefon oder per Videokonferenz sprechen“, erklärte sie. Ein persönliches Treffen sei dafür schon sehr notwendig, sei es bei dem ehemaligen Bewohner zu Hause, in der Universität oder auch an einem neutralen Ort.

Das Leipziger Projekt betrachtet nur ehemalige Bewohner, ein Teilprojekt der Universität Düsseldorf nähert sich von der anderen Seite. Es untersucht die medizinische und psychologische Betreuung von Kindern und Jugendlichen aus Sicht der Mitarbeiter. Es werden Interviews mit Zeitzeugen geführt, die die Heimkinder psychologisch und medizinisch betreut haben. Überhaupt findet Prof. Glaesmer, dass die Teilprojekte sehr gut ineinander greifen. Dazu gehören die Alice-Salomon-Hochschule Berlin, wo die Entwicklung von Personen, die in Kinderheimen oder Jugendwerkhöfen sexuelle Gewalt erfahren haben, untersucht wird und die Medical School Berlin hat ein Online-Programm entwickelt, das Betroffenen bei der Verarbeitung ihrer Heimerfahrung helfen soll.

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Gesamtkonzept dient dabei nicht nur dem akademischen Selbstzweck. Neben der wissenschaftlichen Aufarbeitung sollen Erkenntnisse und Empfehlungen auch in die Öffentlichkeit getragen werden. „Wir werden beispielsweise eine Abschlusstagung haben, die nicht nur für Wissenschaftler gedacht ist“, kündigte Glaesmer an. Die ist für den kommenden Herbst geplant, wird also stattfinden, bevor die Forschungen abgeschlossen sind. Das habe aber auch den Charme, dass Betroffene noch weiter in die Ergebnisse einbezogen werden können. Das Projekt läuft bis zum kommenden Jahr, wegen der Verzögerungen durch die Pandemie wird es zeitlich wahrscheinlich verlängert. Verschiedene Veröffentlichungen für interessierte Laien und wissenschaftliche Publikationen soll es außerdem geben.

Im kommenden Sommersemester wird außerdem ein Seminar für Medizinstudierende an der Universität Leipzig angeboten, das sich mit Traumatisierungen im gesellschaftlichen Zusammenhang beschäftigt und die Heim- erziehung in der DDR als exemplarisches Beispiel genauer betrachten wird. Im Rahmen dieses Seminars sind unter anderem eine Exkursion in die Gedenkstätte des Jugendwerkhofes Torgau und ein Zeitzeugengespräch geplant.

Wer als Zeitzeuge an dem Leipziger Universitätsprojekt teilnehmen möchte, wird gebeten, sich entweder unter der E-Mail-Adresse testimony@medizin.uni-leipzig.de oder telefonisch unter 0341 / 97 118 15 zu melden.