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Pflegekind Ein Leben, zwei Versionen

Zwischen der Pflegemutter in Biederitz und der leiblichen Mama ist Madeleine in den vergangenen 17 Jahren hin- und hergependelt.

14.02.2016, 05:00

Biederitz/Magdeburg l Der Duft von frisch aufgebrühtem Pfefferminztee zieht von der Küche in das kleine Wohn-, Ess- und Schlafzimmer. Draußen sind Minusgrade. Drinnen ist es gemütlich warm. Madeleine stellt vorsichtig die Teetassen auf den Tisch. Sie holt die Kanne aus der Küche. Blickt verstohlen nach unten. Renate Ritter ordnet noch schnell die feuchten Winterstiefel in Reih und Glied unter dem Heizkörper in der Küche an. Zum Trocknen.
Madeleine kennt das Prozedere. Im Hause Ritter hat alles seine Ordnung. „Bei vier Pflegekindern gleichzeitig im Haus hätte das gar nicht anders funktioniert.“ Die ausgebildete Erzieherin Renate Ritter wurde genau genommen per Zufall zur Pflegemutter. Durch eine Anzeige in der Zeitung. Vor 16 Jahren - da war Madeleine gerade mal ein Jahr alt - sucht ihre leibliche Mutter nach einer Ersatzfamilie. Auf Zeit.
Melanie Ponto konnte damals ihrer Mutterrolle nicht gerecht werden. Die Situation war schwierig: Zwei Tage vor Madeleines Geburt nahm sich ihr Vater und Melanie Pontos damaliger Partner das Leben. Der Beginn einer tragischen Familiengeschichte. Im April 2000 schließt Melanie Ponto mit Renate Ritter einen privatrechtlichen Vertrag. Die damals 22-Jährige zahlt monatlich 1000 D-Mark an die Biederitzer Pflegeeltern. Der Deal: Renate Ritter ist von Anfang an „nur die Oma“. Melanie Ponto darf ihre Tochter sehen, wann immer sie möchte. „Es sollte immer klar sein, dass ich die Mutti bleibe“, sagt Melanie Ponto.
„Mir hat das Familienleben so sehr gefehlt.“
Madeleine ist auch heute noch klar, wer ihre leibliche Mutter ist. Doch an ihrer Unsicherheit ändert das nichts. Wo gehöre ich hin? Wem kann ich vertrauen? Wer sagt die Wahrheit? Madeleine sucht seit langem nach Antworten. Mal trieben sie diese Fragen in die Arme ihrer leiblichen Mutter und dann wieder zurück zu ihrer Pflegemutter.
Heute sitzt Madeleine am großen Esstisch ihrer „Oma“ Renate. Neben ihr liegt die dunkle Mappe mit Zeugnissen. Erleichtert fährt Madeleine mit dem Zeigefinger über die Noten auf der letzten Seite. Die Zehntklässlerin war versetzungsgefährdet. Zu viele Fünfen. Das gab es vorher nicht. „Ich komme bei Mama nicht zum Lernen.“ Mama ist Melanie Ponto. Zu ihr in die Dreiraumwohnung nach Magdeburg ist Madeleine 2013 gezogen.
Doch das ging nur zwei Jahre lang gut. „Mir hat das Familienleben so sehr gefehlt“, begründet die 17-Jährige ihre Entscheidung jetzt zurück zur Pflegemutter zu gehen. Beim Familienleben denkt Madeleine an die gemeinsamen Mahlzeiten. Jeder erzählt von seinem Tag. Madeleines leibliche Mutter ist Nachhilfelehrerin, nimmt Abendtermine wahr. „Ich habe mir immer Sorgen gemacht, wenn Mama abends nicht zur verabredeten Zeit nach Hause kam“, erinnert sich Madeleine. Und als dann die schlechten Noten kommen, steht für die Schülerin fest: „Ich muss hier raus.“
Ein harter Schlag für Melanie Ponto. „Ich hätte Madeleine gern bei ihren Notenproblemen geholfen, aber sie wollte es nicht annehmen“, erklärt Melanie Ponto. Madeleine widerspricht nicht. Sie gibt zu, dass sie sich von ihrer Mutter nicht helfen lassen wollte. Irgendwie fehle der Respekt. „Meine Mama war immer mehr wie eine Freundin“, macht Madeleine deutlich: „Nie wie eine richtige Mutter.“
„Ich wollte immer das, was alle anderen Kinder auch haben.“
Doch was macht eine „richtige Mutter“ aus? Madeleine hat gleich zwei davon. Zwei mit ganz unterschiedlichen Einstellungen. Wobei Renate Ritter immer nur die Oma sein wollte. „Ein Kind hat nur eine Mutter.“ Doch warum ist es dann so schwer, einen gemeinsamen Weg zu finden?
Renate Ritter spricht von unterschiedlichen Vorstellungen. Sie erzählt die Geschichte, als Madeleine noch ganz klein war und sie während eines Wochenendes bei ihrer Mama vom Hund gebissen wird. „So etwas kann passieren, aber dann muss man zum Arzt gehen.“ Als Madeleine Sonntagabend zurück zu ihrer Pflege-Oma kommt, sei die Wunde bereits ganz dick gewesen. „Wir sind sofort zum Notarzt und es musste genäht werden“, kann sich Renate Ritter erinnern. Madeleine will die Narbe zeigen und zieht vorsichtig ihren rechten Ärmel hoch. „Nein, die ist links.“ Die 61-jährige Pflege-Oma weiß es besser.
Sie kennt die Narbe. Und sie kennt Madeleines ewigen Traum: Zurück zu ihrer leiblichen Mutter. „Ich wollte immer das, was alle anderen Kinder auch haben - eine ganz normale Familie“, erklärt Madeleine. Die Chance dazu sollte sie erst im Alter von elf Jahren zum ersten Mal bekommen.
Rückblick: Es ist das Jahr 2001, als die damalige Studentin Melanie Ponto sich die monatlichen 1000 D-Mark für Renate Ritter nicht mehr leisten kann. Sie stellt einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung beim Jugendamt. Renate Ritter hat derweil sich zur Pflegemutter ausbilden lassen. Das Geld für Madeleine wird jetzt über das Jugendamt finanziert.
2004 will Melanie Ponto dann ihre Tochter wieder bei sich aufnehmen, verfasst Schriftstücke ans Jugendamt. Das Amt lehnt ab. Mit der Begründung: Sie sei noch nicht in der Lage dazu. Wieder gehen fünf Jahre ins Land, Melanie Ponto sieht ihre Tochter regelmäßig an den Wochenenden. Mit Blick auf den sogenannten Hilfeplan kommen alle sechs Monate die leibliche Mutter, die Pflegeeltern, Mitarbeiter des Jugendamtes und das Kind selbst an einen Tisch. „Jeder konnte dort sagen, was ihn stört“, erinnert sich Renate Ritter noch gut an diese Treffen.
Als Madeleine elf Jahre alt ist, sucht Melanie Ponto Hilfe beim Anwalt. Sein Rat: Wer den Antrag auf Hilfe zur Erziehung selbst gestellt hat, kann ihn auch wieder zurückziehen. Das macht die heute 38-Jährige. Und Madeleine lebt daraufhin bei ihrer leiblichen Mutter. Doch nur ein Jahr lang. „Es war so schwierig, Madeleine wollte einfach nicht in die Schule gehen, hat immer geweint und Kontakt zur Pflege-Oma gesucht“, erzählt Melanie Ponto aus ihrer Erinnerung. Ihre Stimme klingt dabei traurig.
Renate Ritter sei immer präsent gewesen, der Kontakt nie abgerissen. Das Recht Madeleine auch nach ihrem Auszug noch regelmäßig zu treffen, klagte die Pflegemutter sogar für viel Geld ein. Geht es nach Melanie Ponto hätte die Pflege-Oma loslassen müssen. „Ich glaube, sie hat vergessen, dass ich die richtige Mutti bin.“
„Vielleicht habe ich die Fronten anderen überlassen.“
Die Verzweiflung von damals ist heute noch zu spüren. „Vielleicht habe ich die Fronten anderen überlassen, nicht genug gekämpft.“ Obwohl Melanie Ponto heute weiß, dass es in diesem Moment keine Alternativen gab. Madeleine zieht im Jahr 2011 zurück zu Renate Ritter. Melanie Ponto begründet, warum sie damals zugestimmt hat: „Ich konnte das Kind nicht mehr so leiden sehen.“
Und gelitten hat Madeleine als junger Mensch zur Genüge. Sie selbst würde das nie so formulieren. Doch wenn Madeleine von ihrer Kindheit spricht, fallen die Worte Schulwechsel, Mobbing, Esssucht und schlechtes Gewissen. „Ich stehe immer zwischen den Stühlen“, gibt die 17-Jährige ehrlich zu. Wenn sie nicht bei ihrer Mama ist, hat sie ein schlechtes Gewissen, ihr als Stütze zu fehlen. Und als sie vor zwei Jahren bei ihrer Pflege-Oma auszieht, wechselt Renate Ritter vom großen Einfamilienhaus in eine kleine Wohnung. Madeleine fühlt sich schuldig. „Dafür gibt es aber keinen Grund“, macht Renate Ritter deutlich. Denn die 61-Jährige nimmt bereits seit einer Weile keine Pflegekinder mehr auf, sondern will nur noch ihrem Job im Kinderheim nachgehen - und „wäre so oder so aus dem großen Haus ausgezogen“. Madeleine überzeugen diese Argumente nicht: „Ich fühle mich trotzdem schuldig und vermisse das Haus sehr.“
Derzeit lebt die 17-Jährige ohne Entscheidung oder Geld vom Jugendamt bei ihrer Pflege-Oma in Biederitz. An den Wochenenden fährt sie zu ihrer Oma väterlicherseits. Finanzielle Unterstützung bekommt sie von ihrer leiblichen Mama. Per Überweisung. Wenigstens bis zu ihrem Schulabschluss soll das so bleiben. Danach kommt für sie auch betreutes Wohnen in Frage. „Ich will niemandem auf der Tasche liegen“, erklärt Madeleine. Doch aktuell habe es keine freien Plätze in Magdeburg gegeben. Den Kontakt zu ihrer leiblichen Mama will Madeleine aber unbedingt halten, kann sich gemeinsame Urlaube gut vorstellen. „Schon allein wegen meiner Halbschwester.“
„Dieses tiefe Vertrauen zwischen Mama und Kind ist kaputt.“
Madeleine blättert in ihrer Zeugnismappe zurück. Die Beurteilungen lesen sich von der ersten Klasse an gleich. „Madeleine ist oft mit den Gedanken abgelenkt. Madeleine braucht Ermutigungen, muss selbstsicherer auftreten. Madeleine ist eine sehr zurückhaltende Schülerin.“
Renate Ritter erinnert sich an den ersten Besuch von Madeleine als Kleinkind: „Sie saß ganz verschüchtert in der Ecke, wirkte fast ängstlich und irgendwie unnahbar.“ Erst viel später habe die Pflege-Oma aus den Akten erfahren, dass sie und ihr Mann bereits die vierte Familie für Madeleine in ihrem ersten Lebensjahr waren. Melanie Ponto weiß nicht, woher „dieser grobe Fehler“ kommt. Madeleine sei nur einmal für die Dauer ihres Therapieaufenthaltes bei einer befreundeten Familie untergekommen.
Es sind genau diese Ungereimtheiten, die Madeleine verunsichern. Ihr fehlt das Urvertrauen - vor allem zu ihrer eigenen Mutter. Das spürt Melanie Ponto: „Dieses tiefe Vertrauen, was es eigentlich zwischen Mama und Kind geben sollte, ist kaputt gegangen.“ Aber wer trägt daran die Schuld? Eine gemeinsame Antwort gibt es darauf nicht. Doch Melanie Ponto findet Worte: „Es kam mir immer vor, wie ein Kampf zwischen Renate und mir - obwohl es gar keiner ist.“ Und jetzt spiele die Zeit gegen Madeleine und ihre Mama.
Madeleine will selbst einmal Kinder haben, als Erzieherin die jungen Menschen sogar zu ihrem Beruf machen. Das alles erzählt die junge Frau mit einem Strahlen im Gesicht. Als plötzlich Madeleines Gesichtsausdruck sehr ernst wird. Die Vergangenheit hat in ihr Spuren hinterlassen: „Ganz ehrlich, ich habe Angst, selbst als Mutter zu versagen.“