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Volksstimme-Serie Helden der Nacht

Die Volksstimme-Redakteure testen Berufe. Heute: Juliane Just in der Burger Bäckerei Delorme.

Von Juliane Just 22.06.2018, 07:00

Burg l Die Uhr zeigt 1.50 Uhr an. Soweit ich das aus meinen müden Augen erkennen kann, liegt die Stadt im Dunkeln. Nur in einem Haus in der Brüderstraße brennt Licht: in der Bäckerei Delorme. Ich klopfe an die Tür. Bäcker Hans-Jörg Meiling begrüßt mich gut gelaunt – wie auch immer er das in dieser Herrgottsfrühe macht. Ein weißes Shirt, die rote Bäckerschürze sowie der Hut warten bereits auf mich. Es ist Zeit, mit der Arbeit zu beginnen.

Während das Thermometer draußen laue 22 Grad anzeigt, sind in der Backstube schon gefühlte 73 Grad Celsius. „Der Ofen heizt gerade erst hoch“, sagt Hans-Jörg Meiling schmunzelnd, und ich bin mir nicht sicher, ob das eine Drohung ist. In der gekachelten Backstube ist ausreichend Platz für große Maschinen zum Kneten und Zubereiten, viele kleine Bottiche mit Zutaten und vier Mitarbeiter. Es liegt Mehl in der Luft.

Jeder Morgen beginnt bei den Bäckern wie bei vielen anderen Deutschen: mit Brot. „Die Brote müssen zuerst in den Ofen, weil sie am längsten backen“, erklärt Hans-Jörg Meiling. Ich wiege die Backzutaten ab, die der Bäckermeister mir zuruft. Auch in meinen eigenen vier Wänden habe ich schon Brot gebacken – nur eben in anderen Dimensionen. Hier sind es 4,5 Kilogramm Mehl oder 2 Kilogramm Salz, die ich mit einer großen Handschaufel aus 50-Kilogramm-Säcken hieve.

Bereits vor 120 Jahren schleppte Bäckermeister Gustav Delorme diese Säcke an gleicher Stelle durch die Backstube. Er hätte sich wohl nicht träumen lassen, dass der kleine Familienbetrieb den Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie die Wendezeit überleben würde – anders als andere Bäckereien. Mit Sohn Pascal Delorme steht bereits die fünfte Generation in den Startlöchern, um die Backtradition weiterzuführen.

Nun kommen die Brote auf lange Backbleche, die als Ofenschieber fungieren. Wir ritzen die obere Schicht der Brote mit scharfen Messern ein. Verschiedene Muster kennzeichnen verschiedene Brote – wie eine Art Zeichensprache für die Verkäuferinnen hinter der Ladentheke. Anschließend verschwinden die Brote in den vier großen Klappen des Ofens. In einer Stunde werden wir sie braungebrannt wiedersehen.

Inzwischen ist es 4 Uhr. In Bäckersprache: Brötchenzeit. Ob Kaiserbrötchen, Schrippen oder Brezeln – hier ist jedes Brötchen handgemacht. Hans-Jörg Meiling zeigt mir mit schnellen Handbewegungen, wie ich aus den Teigkugeln wohlgeformte Brötchen mache. In seinen Händen ist der Teig formbar, in meinen nur Brei. Ich forme und bastle, bis ich endlich ein halbwegs ansehnliches Kaiserbrötchen mit seiner typischen Sternform in meinen Händen halte. In derselben Zeit hat der Bäckermeister davon 30 geformt, die exakt gleich aussehen. Übung macht ja bekanntlich den Meister.

Die nächsten Brötchen gelingen mir besser. Doch auf dem Backblech sieht man deutlich, wessen unförmige Teigklumpen da am Ende der perfekten Reihe liegen. Ich übe mich darin, dass die Brötchen einen vernünftigen Schluss bekommen, damit sie später nicht reißen. Es gibt so viele Kleinigkeiten, an die man als Bäcker denken muss. Ich jedoch denke gerade an mein Bettchen, in das ich mich gern zurückkuscheln würde.

Das frühe Aufstehen ist es wohl auch, dass den meisten Azubis den Bäckerberuf nur wenig attraktiv macht. „Wir finden nur schwer Nachwuchs. Doch das Handwerk ist nach wie vor attraktiv und der Beruf macht Spaß“, sagt Michaela Delorme. Doch ohne Auszubildenden ist die Arbeit für drei Personen in der Backstube und drei im Verkauf kaum zu schaffen. Der Landesinnungsverband des Bäckerhandwerks beklagt ebenfalls den Imageverlust des Ausbildungsberufes. Dabei zeigen Zahlen der Agentur für Arbeit, dass es in Sachsen-Anhalt wieder mehr Auszubildende im Bäcker- und Konditorenbereich gibt. Waren es im Jahr 2013 noch 217 Azubis, entschieden sich im vergangenen Jahr 37 Personen mehr für den Beruf als Bäcker oder Konditor.

Gegen 6 Uhr wartet auf mich der schönste Moment des Tages. Wir holen die Milchbrötchen, die ich zuvor eigenhändig geformt habe, aus dem Ofen. Hans-Jörg Meiling streckt mir eines der dampfenden Kunstwerke entgegen und sagt: „Probieren Sie! Die schmecken herrlich, wenn sie frisch sind.“ Ich nehme das fluffige Gebäck und beiße ab. Nur für einen Moment wirft es mich gedanklich in meine Kindheit zurück, wenn es nachts bei Bauchweh warme Milch mit Honig gab. Solche Freuden hat also ein Bäcker.

Doch neben den kleinen Freuden sind es vor allem große Sorgen, die gerade Familienbetriebe plagen. Von ehemals 780 Handwerksbäckereien in Sachsen-Anhalt im Jahr 1990 existieren momentan noch 260, wie der Landesinnungsverband des Bäckerhandwerks Sachsen-Anhalt mitteilt. „Das liegt aus unserer Sicht in einer seit etwa 30 Jahren verfehlten staatlichen Förderpolitik großer, industrieller Backwarenunternehmen“, sagt Marika Krause vom Landesinnungsverband.

Der Konkurrenzdruck durch die Discounter, die eigene Backshops in den Verkaufsbereich integriert haben und die Backwaren dort billiger verkaufen sowie durch Bäckerketten, die größtenteils tiefgefrorene Teiglinge angeliefert bekommen, führen zu einem Sterben der Handwerksbäckereien. Das zeigt sich auch in Burg: Gab es im Jahr 1939 noch über 60 Bäckereien, sind es heute noch drei Familienbetriebe - Delorme, Franke und Risch. Das Sortiment der Bäckerei Delorme kann sich für die Größe des Betriebes sehen lassen. „Wir müssen mit der Konkurrenz mithalten“, sagt Michaela Delorme.

10 Uhr, mein Arbeitstag endet. Der meiner Kollegen in der Redaktion beginnt gerade – ein schönes Gefühl. Mir schmerzen die Beine vom Stehen, ich bin über und über mit Mehl und Teig beschmiert und ziemlich erschöpft. Zum Feierabend erwartet mich ein anbrechender Sommertag mit 30 Grad Celsius. Eine angenehme Abkühlung zu den Arbeitsstunden vorher.

Mein Fazit: Das Bäckerhandwerk ist facettenreicher als ich dachte. Die Arbeit ist anstrengend, aber das Ergebnis macht stolz. Wenn die Kunden die Brötchen kaufen, haben sich die Stunden in der warmen Backstube gelohnt. Ich persönlich werde fortan jedes Brötchen bewusst essen. Wieso? Weil jemand 2 Uhr in der Früh für mich aufgestanden ist, um es mit seinen eigenen Händen zu formen.