1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Gardelegen
  6. >
  7. Allein, aber endlich angekommen

Flüchtlinge Allein, aber endlich angekommen

Premiere im Altmarkkreis: Erstmals beziehen alleinreisende ausländischen Kinder und Jugendliche in Gardelegen eine Wohngruppe.

Von Gesine Biermann 06.03.2016, 07:30

Gardelegen l Seine Leute sind alle noch zu Hause in Damaskus, seine sechs Schwestern, die Eltern – Hussein Al Rifaee ist allein in Deutschland. Der 17-Jährige macht keinen Urlaub hier. Er ist geflüchtet, vor dem Krieg, auch davor in einen Kampf geschickt zu werden, der nicht sein Kampf ist.

Wie Hussein kommen derzeit aus ähnlichen Gründen viele Jugendliche aus Syrien oder Afghanistan allein nach Deutschland. Fast immer sind es Jungen. Acht von ihnen leben nun in Gardelegen. Das Team des Aus- und Weiterbildungszentrums (AWZ) im VHS-Bildungswerk kümmert sich um sie. Um sie betreuen zu können, wurde umgebaut und renoviert. Noch ist nicht alles fertig. Aber die Jugendlichen, alle zwischen 15 und 17 Jahren, sind froh, endlich irgendwo angekommen zu sein.

Dass sie hier zusammen wohnen können, rund um die Uhr betreut werden, ist eine Premiere im Altmarkkreis. Bisher blieben minderjährige Jugendliche, die ohne ihre Familie nach Deutschland kamen, bei Verwandten oder in sogenannten Fluchtgemeinschaften. Hussein und die anderen Jungs haben aber tatsächlich niemanden, zu dem sie sich zugehörig fühlen. Die Unterbringung in der großen Wohngemeinschaft ist nun fast so etwas wie ein Familienersatz. Immerhin teilen hier alle ein ähnliches Schicksal.

Damit umzugehen, auch mit den Auswirkungen auf die Psyche der jungen Leute, ist jetzt auch eine Herausforderung für das AWZ-Team um Leiterin Dagmar Rusch. Sie macht derzeit nicht nur eine Weiterbildung zur Flüchtlingsseelsorgerin, sondern hat sich im Vorfeld auch schon mal bei Kollegen des VHS-Bildungswerkes in Brandenburg umgeschaut, die bereits alleinreisende Jugendliche betreuen. Zudem steht sie in engem Kontakt mit dem Jugendamt des Altmarkkreises, das für die Betreuung minderjähriger Flüchtlinge ohne Familienbegleitung zuständig ist. „Es ist natürlich auch eine Weiterbildung für alle Mitarbeiter angesagt.“

Zunächst müssten die acht Jungs ja aber erstmal „ankommen“, sagt Rusch. „Sie sind ja gerade erst ein paar Tage da.“ Dafür klappt alles schon recht gut. Die jungen Männer wissen, dass sie auch Pflichten haben. Hinterhergeräumt wird ihnen hier zum Beispiel nichts. Sie müssen selbst saubermachen und auch kochen. Manches unbekannte Gericht mögen sie nämlich nicht so gern. Deshalb ist es sinnvoll, dass sie selbst für sich sorgen.

Daran, dass die Verständigung mittlerweile prima klappt, hat indes ein neuer Kollege einen großen Anteil. Mohamed El Jaouhari kommt aus Braunschweig und spricht Arabisch und Persisch. Als pädagogischer Mitarbeiter vermittelt er so zwischen Betreuern und Bewohnern. Als Araber kann er sich außerdem gut in die Jugendlichen hineinversetzen. Und er kann ihnen auch beim Deutschlernen helfen. Übrigens: Auch wenn einige von ihnen auch Englisch verstehen, sprechen alle Betreuer nur Deutsch mit ihnen, versichert Dagmar Rusch. Schließlich sollen sie sich schnell integrieren. Zu ihrer Freude, „sind auch alle sehr motiviert, es zu lernen“.

Und das ist auch gut so, schließlich sollen sie schon bald zur Schule gehen. „Wer unter 16 ist, geht zur Sekundarschule, die älteren sollen zur Berufsschule.“ Da ist das Verstehen Grundvoraussetzung. Allerdings bringen die Jugendlichen ganz unterschiedliche Vorbildungen mit. Während die meisten in ihrer Heimat ganz normal zur Schule gingen, kann einer nicht einmal in seiner Muttersprache lesen und schreiben. Das stellt die Deutschlehrer, die sich im Gemeinschaftsraum des AWZ künftig regelmäßig mit den jungen Männern treffen sollen vermutlich vor besondere Herausforderungen.

Genau so wie die Erlebnisse, die die jungen Leute bereits hinter sich haben. Im Konzept für die Wohngruppe geht es deshalb auch darum. „Viele der Kinder und Jugendlichen sind vor und während der Flucht Zeuge von Menschenrechtsverletzungen und Gewalt geworden“, heißt es darin. Nun müssten sie nicht nur „die Trennung von Familie und sozialem Umfeld“, sondern auch die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse bewältigen. Und das in einer für sie fremden Welt und zudem in der ohnehin schwierigen Übergangszeit vom Kind zum Erwachsenen.

„Vor diesem Hintergrund bieten wir den Jugendlichen Sicherheit, Schutz und Versorgung, eine Perspektive über Ansprechpartner, die sie begleiten, Offenheit und Interesse für ihre Lebensgeschichte“, heißt es im Konzept. Wie ihre Lebensgeschichte weitergeht, haben die Jungs aber natürlich in erster Linie auch selbst in der Hand. Einen Beruf lernen, möchten sie alle. Der 17-jährige Mahmad Marsini will danach vielleicht studieren. Der größte Wunsch aller ist allerdings derselbe. Betreuer Mohamed übersetzt: „...dass der Krieg endlich zu Ende ist, und wir wieder nach Hause können!“