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Corona „Mein Kind ist genervt von mir“

Arbeit, Kind, Haushalt, Homeschooling - Eltern müssen eine Mehrfachbelastung stemmen. Besonders aufreibend ist das für Alleinerziehende.

Von Stefanie Brandt 12.02.2021, 04:12

Hemstedt l Morgens um vier klingelt in der Regel der Wecker, dann heißt es für Michele Meißner: Aufstehen! Die 39-Jährige ist in der ambulanten Pflege tätig und beginnt um sechs mit der Arbeit, halb sieben ist sie beim ersten Patienten. Ihre tägliche Tour fährt sie meist zwischen Letzlingen und Roxförde. Im Schnitt, berichtet sie, betreue sie um die 20 Patienten am Tag. Gegen 13 Uhr ist Feierabend – zumindest was den bezahlten Job angeht. „Ich habe Glück, mein Chef kennt meine Situation und kommt mir sehr entgegen, ich muss aktuell nur selten auch noch in den Spätdienst.“

Weiterarbeiten muss sie aber trotzdem, denn die Hemstedterin ist neuerdings im Nebenberuf Lehrerin. Zu Hause wartet ihre elfjährige Tochter auf sie. Wobei es derzeit kein freudiges Erwarten der Heimkehr der Mutter gibt, denn Maja weiß: Jetzt geht die Schule los. Dabei hat sie selbst am Vormittag schon Texte abgeschrieben und Vokabeln gelernt. „Wenn ich nach Hause komme, ist mein Kind aktuell schon total genervt von mir“, spricht die Mutter die traurige Wahrheit aus.

Nach einem gemeinsamen Mittagessen beginnt gegen 14 Uhr der Unterricht. „Wir gehen den neuen Stoff von den Lehrern durch und ich erzähle Maja dazu etwas, sie arbeitet das dann aus. Das ist nachmittags die Zeit, in der wir etwas zusammen machen.“ Gegen 17 Uhr wird das Abendessen vorbereitet und noch etwas im Haushalt erledigt. Nach dem Abendbrot geht es mit der Hausarbeit weiter, zum Beispiel mit Küche aufräumen und Wäsche zusammenlegen.

Und dann beginnt das Selbststudium für Michele Meißner. Maja druckt die neuen Lerninhalte, die von den Lehrern geschickt werden, aus und legt sie der Mutter hin. „Ich gehe offen damit um und sage Maja, dass ich mir das selbst erst angucken muss. Ich brauche da keinen Hehl draus zu machen. Vielfach verstehe ich selbst die Fragestellungen der Lehrer nicht. Da kann ich ja schlecht von meinem Kind erwarten, dass sie das alleine kann.“ Wenn die Fünftklässlerin im Bett ist, lernt ihre Mutter also erstmal selbst den Stoff für den nächsten Tag – teilweise bis 1 Uhr nachts.

„Ich bin über 20 Jahre aus der Schule raus und vieles hatten wir so vielleicht gar nicht. Geografie: Leben und wirtschaften an der Elbe – davon habe ich keine Ahnung. In Deutsch sollen wir Erzählschritte über Eulenspiegel und Krabat schreiben, und ich denke: Erzählschritte? Was ist das denn?“ Die Mutter beliest sich also selbst und versucht dann ihrer Tochter am nächsten Tag den Stoff zu vermitteln. „Dann sitzen wir zusammen und ich denke: Oh Gott, wie erkläre ich ihr das jetzt? Ich bin Mutter, kein Lehrer. Wenn sie das nicht versteht, dann eskaliert die Stimmung, und es gibt Tränen auf beiden Seiten. Das ist ganz schwierig für die Beziehung zum Kind.“

Die Eltern versuchen sich gegenseitig zu helfen. Ob man aber richtig gelegen hat, erfahre man selbst erst, wenn die Lehrer die abgegebenen Arbeiten durchgesehen haben, berichtet Meißner. „Wenn ich Pech habe, vermittele ich seit drei Wochen etwas Falsches. Das ist schlimm, denn es baut ja aufeinander auf. Bio und Geo, das kann man erlesen, aber Deutsch und Mathe, das muss man verstehen.“ Hinzu kommen die Herausforderungen der benötigten Technik. Der eine Lehrer arbeitet mit Moodle, ein anderer möchte E-Mails, der nächste Audio-Aufnahmen. „Ich bin kein Computer-Genie. Daran verzweifelt man.“

Wo bleibt bei all der Arbeit die Zeit für sich selbst? „Für mich? Die Zeit gibt es nicht. Ich habe ja auch nicht jedes Wochenende frei. Aber es ist für alle schwer, für die Kinder, die Lehrer und die Eltern. Es geht ja nicht nur mir so.“

Eine Krankschreibung, um nicht arbeiten gehen zu müssen, sei keine Option für sie, sagt Michele Meißner. „Das ist nicht der richtige Weg. Ich bin Fachkraft in der Pflege. Ich liebe meine Arbeit, werde gebraucht und will meine Kollegen und Patienten nicht hängen lassen.“

Obwohl sie sich selbst ausgebrannt fühlt, hat sie Verständnis für die Maßnahmen: „Vor ein paar Monaten habe ich das nicht so eng gesehen, aber jetzt habe ich gesehen, was die Krankheit in kurzer Zeit aus Menschen machen kann. Deshalb nehme ich es so in Kauf, wie es läuft, und hoffe, dass sich im Sommer alles normalisiert.“

Bis dahin bleibt zumindest ein sonntägliches Ritual, das schon vor Corona-Zeiten existierte, die einzige Auszeit, die sich Mutter und Tochter gönnen: „Jeden Sonntag machen wir einen Mädelsabend, machen eine Gesichtsmaske drauf und die Haare schön und trinken Saft aus Sektgläsern, haben Kerzen an. Diese paar Stunden gehören nur uns, das muss einfach möglich sein.“