DDR-UnrechtGestohlene Schwester gesucht
Susanne Knabe trägt eine Last mit sich herum, die schwer auf ihre Seele drückt: Ihre Familie wurde zu DDR-Zeiten auseinandergerissen.
Gardelegen/Berlin l Sie weiß nicht ganz genau, wie ihr Zwillingsschwesterchen hieß. Steffi oder Stephanie möglicherweise? Sie weiß nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebt. Und sie kann sich auch nicht mehr daran erinnern, wie es so war, als Teil eines Zwillingspaares, ob sie sich früher, in den ersten Monaten ihres Lebens, nachts an den kleinen Händchen hielten, oder ob sie in getrennten Betten schlafen mussten, damals, im Gardeleger Säuglingsheim. Sie weiß nur, dass ihr ein Teil ihres Lebens fehlt.
Und deshalb ist Susanne Knabe genau danach auf der Suche. Seit Jahren schon. Die Akten stapeln sich bei ihr zu Hause. Kopien von Auszügen aus Standesämtern und Melderegistern, Stasiunterlagen, Protokolle, Briefe, und auch ein paar kostbare Fotos. Auf einigen davon ist sie zu sehen, ihre Schwester Stef... wie auch immer. Beweis dafür, dass sie wirklich existiert hat, bevor sie sich verloren.
Verloren hatten die beiden kleinen Mädchen aber eigentlich schon bei ihrer Geburt am 10. April 1970 im Gardeleger Kreiskrankenhaus. Die Mutter ist zu dem Zeitpunkt schon wegen versuchter Republikflucht angeklagt, hat lediglich Haftverschonung erhalten – offenbar wegen der Schwangerschaft. Doch schon wenige Wochen nach der Entbindung geht Anna-Maria K. ins Gefängnis, wird später in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben. Der Vater ebenso.
Susanne Knabe und offensichtlich auch ihre Zwillingsschwester kommen ins Säuglingsheim an der Gardeleger Gartenstraße. Aus dieser Zeit hat Susanne Knabe zumindest die wenigen Bilder, die sie und ihr Schwesterchen mit anderen Kindern zeigen. Als ihre ersten Erinnerungen einsetzen, sind sie längst getrennt. Mit drei Jahren wird Susanne allein ins Vorschulkinderheim Lüttgenziatz (Kreis Burg) gebracht. Viele Jahre später erst erfährt sie, dass dort im Dezember 1975 ihr Vater auf sie wartete. Der wollte die damals Fünfjährige zu sich holen. Doch die sollte ihren Papa nicht zu Gesicht bekommen: „... das Kind wurde ihm nicht gezeigt und auch nicht herausgegeben“ heißt es völlig emotionslos in einem Protokoll des Heimes.
Man hatte der leiblichen Mutter, die da bereits in der BRD lebte, offenbar übelgenommen, dass sie die Einwilligungserklärung zur Adoption ihrer Tochter verweigert hatte. Bereits nach ihrer Abschiebung hatte Anna-Maria K. nämlich den Antrag gestellt, dass ihre Tochter zu ihr in die Bundesrepublik übersiedeln darf. Das wiederum hatten die DDR-Behörden abgelehnt. Das Jugendamt hatte ihr mitgeteilt, „...dass es für das Kind besser sei, wenn es in der vertrauten Umgebung bleibt.“ Ein Hohn. Denn die kleine Susanne sehnt sich nach nichts mehr, als dass ihre Eltern sie abholen. „Man hat mir zwar immer gesagt, dass sie tot sind, aber ich hab das nie geglaubt“, erinnert sich die 48-Jährige.
Und so geht auch ein Gastspiel als „Tochter“ in einer Oebisfelder Familie nicht gut. Sieben ist sie, als sie im März 1978 dorthin vermittelt wird. Zwei Jahre zuvor war sie bereits zurück in den Kreis Gardelegen gebracht worden. Ihr Zuhause ist nun das Kinder- und Jugendheim in Siems. Von dort aus geht sie in die Oebisfelder Lessingstraße. Und auch wenn sie dort gut zwei Jahre lebt, kommt sie nie an. Am 10. Juni 1980 läuft sie weg, will lieber wieder ins Heim ...
Und dort findet Susanne Knabe schließlich auch den Beweis dafür, dass ihre Eltern noch leben: „Kurz vor unserem 14. Geburtstag mussten wir den Personalausweis beantragen“, erinnert sie sich. „Dafür kriegten wir unsere Geburtsurkunden.“ Ein Heimkamerad entdeckt dabei, dass für Susanne gleich zwei Urkunden auf dem Schreibtisch liegen. „Er hat mich so laut gerufen, dass ich dachte, es wär ihm was passiert“, erzählt sie. Dann jedoch passiert ihr etwas: In einer Urkunde steht nämlich: Mutter unbekannt verzogen, in der anderen Vermerk: Mutter und Vater leben in Westdeutschland. „Das hat mir einfach die Beine weggezogen“, sagt Susanne Knabe. „Ich hatte es ja die ganze Zeit geahnt.“
Doch das Wissen nützt ihr zunächst wenig. Erst 1989 darf sie ihr neues, eigenes Leben beginnen. Da ist sie mit ihrem Sohn schwanger. Mitten in den Wendewirren. „Da hatte man natürlich erstmal anderes im Kopf“, sagt sie. Doch schon 1990 beginnt die 20-Jährige, Licht in den Nebel ihrer Vergangenheit zu bringen. Erste Anrufe im Gardeleger Standesamt bescheren ihr dabei eine ganz unerwartete Überraschung: „Ich bekam plötzlich Post“, erinnert sie sich. Ein anonymer Brief und lauter Fotos. „Ich weiß bis heute nicht, wer mir das geschickt hat!“
Doch so findet sie zum ersten Mal Hinweise auf die Zwillingsschwester. Und sie erfährt auch, dass sie noch weitere Halbgeschwister gehabt haben soll. Zwei Brüder und eine Schwester. Zwei sollen allerdings bereits wenige Monate nach ihrer Geburt verstorben sein. Nach all den Lügen mag Susanne Knabe aber auch das nicht glauben. Im Internet sucht sie seither deshalb nicht nur nach ihrer Schwester Steffi (geboren in Gardelegen, am 10. April 1970), sondern auch nach Margot Knabe (geboren am 25. Dezember 1967 in Schönebeck) und nach Axel Knabe (geboren am 17. Oktober 1966 in Barnim/Schönebeck). Möglicherweise wurden ja auch sie zur Adoption freigegeben, mutmaßt die Berlinerin.
Es gebe da natürlich jemanden, der Licht ins Dunkel bringen könnte. Diejenige verweigert ihrer Tochter allerdings bis heute jede Antwort: 1990 steht Susanne Knabe nämlich nach vielen Recherchen ihrer leiblichen Mutter gegenüber, die heute im Norden Deutschlands mit ihrer neuen Familie lebt. Zu Susanne indes findet sie keinen Draht. „Als ich vor ihr stand, hat sie mich gefragt, ob die Stasi mich schickt“, erinnert sich die Tochter.
Geschockt hat sie dieses Erlebnis aber offenbar nicht. „Das Heim macht einen unheimlich hart“, gibt sie zu. Und über die Vergangenheit der Mutter will sie lieber nicht mutmaßen, „vielleicht gibt‘s da sogar Verbindungen zur Stasi... Ich will nicht über jemanden urteilen. Ich will nur die Wahrheit.“
Zu einem der schönsten Erlebnisse 1990 gehört wohl allerdings die erste Begegnung mit dem Mann, den die Mutter als ihren Vater in ihre Geburtsurkunde eintragen ließ: Norbert Willi Klaus Helmut Emil Friedrich aus Gardelegen. Auch ihn trifft sie 1990 zum ersten Mal. Und diesmal ist er es, der sie findet. In einer Gaststätte in Klötze schließt er die Tochter zum ersten Mal in die Arme. „Ich musste mich erstmal sortieren“, sagt Susanne Knabe, „aber er war von null auf hundert sofort mein Vater“.
Wer Susanne Knabe helfen kann, etwas über ihre Familie herauszufinden, kann sich bei ihr unter 0157/54 53 49 56 oder sgknabe104@gmail.com melden.