Flüchtlinge Demo gegen Abschiebung

Andernorts wird gegen Flüchtlinge demonstriert. In Kalbe war es am Donnerstagabend genau andersherum.

Von Conny Kaiser 22.04.2016, 09:28

Kalbe l „Tanwir soll hier bleiben“, rufen VfL-Nachwuchs und Grundschüler aus Kalbe lautstark und halten ein Transparent mit der Aufschrift „Wir stehen hinter Familie Sahak“ nach oben. Es ist spontan gestaltet worden. Denn plötzlich musste alles ganz schnell gehen.

Tanwir ist der sechsjährige Sohn des aus Afghanistan stammenden Ehepaares Ajmal und Shakila Sahak und der Bruder des vierjährigen Maazullah. Beide Kinder sprechen gut Deutsch und haben viele Freunde in Kalbe gefunden. Aber dasselbe gilt auch für ihre Eltern. Diese haben sich in den rund zwei Jahren, in denen die Familie nun schon in der Stadt lebt, perfekt integriert– und zwar so gut, dass sie inzwischen anderen Flüchtlingen Unterricht geben und längst nicht nur vor Ort, sondern auch auf Kreisebene als Dolmetscher fungieren. Dennoch sollen die Sahaks nach Bulgarien zurücküberstellt werden, weil dies das erste EU-Land war, das sie nach ihrer dramatischen Flucht, die sie unter anderem durch türkische Gefängnisse führte, betreten hatten. Nicht nur sie selbst sind darüber entsetzt, sondern auch viele Kalbenser sind es, unter ihnen Einheitsgemeinde-Bürgermeister Karsten Ruth.

Er hat spontan einen Brief an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Halberstadt verfasst – und er ist längst nicht der einzige. Auch das Team der Kalbenser Grundschule, der Kita „Märchenland“, des Hortes, aber auch Mitarbeiter des Sozialamtes und ortsansässige Ärzte haben Schriftstücke verfasst und den Sahaks mit auf den Weg nach Halberstadt gegeben. Dorthin führt sie am gestrigen Freitag ihre Reise. Denn wegen der Fristsetzungen ist dies ihre letzte Chance, Einspruch gegen den Bescheid einzulegen. Früher hatten sie allerdings auch keine. Denn erst einen Tag zuvor, also am Donnerstag, hat das Schreiben sie erreicht. Es hat nach Angaben der Familie einen langen Umweg über ein Anwaltsbüro genommen. Und erst am Mittwochabend habe es telefonisch eine Vorabinformation an sie gegeben, dass nun die Abschiebung drohe.

Was die Abschiebung für die betroffene Familie bedeutet, lässt sich kaum ermessen. Was sie für Kalbe bedeutet, versucht der Bürgermeister in Worte zu fassen: Die Sahaks seien „zwischenzeitlich nahezu unverzichtbare Partner für einen Großteil der in Kalbe untergebrachten Flüchtlinge und Asylanten sowie für viele Behörden und Institutionen geworden“. Ihre Unterstützung erfolge „selbstlos und kostenneutral und hat bereits mehrfach geholfen, auch angespannte Situationen vor Ort zu entschärfen.“ Ajmal Sahak und seine Frau – der studierte Bauingenieur spricht sechs Sprachen, die gelernte Erzieherin sogar sieben – würden „als kompetente und menschlich angenehme Ansprech- und Kontaktpartner dringend benötigt.“ Dies übrigens, so Ruth weiter, „gilt über die Grenzen unserer Kommune hinaus.“