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Grenzöffnung Am Wochenende schneller Stempel

Am 9. November 1989 öffneten sich die innerdeutschen Grenzen. Was stand damals im Gardelegener Kreisanzeiger?

Von Cornelia Ahlfeld 08.11.2019, 22:00

Gardelegen l Nach der berühmten Pressekonferenz mit Günter Schabowski zum neuen Reisegesetz, wonach jeder DDR-Bürger über die Grenzübergänge ausreisen könne und das sofort, machten sich nach erstem Zögern und den Bildern von den feiernden Menschen auf der Berliner Mauer Menschenmassen auf den Weg. Mit dabei sind auch viele Bürger aus dem damaligen Kreis Gardelegen. Auch sie stiegen in die Züge in Richtung Berlin oder Westdeutschland oder fuhren mit Trabis, Wartburgs und Ladas nach drüben. Doch was berichtete damals der Gardelegener Kreisanzeiger über die Grenzöffnung, was stand in der einstigen SED-Zeitung über die Ereignisse um den 9. November 1989?

Um es vorweg zu nehmen, über den Fall der Mauer und die Grenzöffnung findet sich im Lokalteil der Volksstimme in den Novembertagen vor 30 Jahren nicht wirklich viel. Ein erster Hinweis, dass irgendwas passiert sein muss, findet sich am 11. November in der Zeitung. Das Wehrkreiskommando teilte mit, dass alle bisherigen Festlegungen für den Reservistendienst aufgehoben sind. „Reservisten, die bis zum 16.11.1989 eine Aufforderung erhalten haben, brauchen dieser nicht Folge zu leisten“, heißt es in einer kleinen Meldung. Den ersten konkreten Hinweis gibt es in der Ausgabe vom 14. November. Unter der Überschrift „Am Wochenende schneller Stempel“ teilte der Kreisanzeiger der Leserschaft mit, dass am Wochenende die Abteilung Pass- und Meldewesen des Volkspolizeikreisamtes, kurz VPKA, bis abends 22 Uhr gearbeitet und 9800 Anträge auf ein Visum entgegengenommen hat. Überstunden machten auch die Kollegen der Gardelegener Kreisfiliale der Staatsbank der DDR. 4000 Bürger erhielten ihre Reisegeld.

Zugleich findet sich in dieser Ausgabe ein Interview mit dem damaligen 2. Sekretär der Kreisleitung, Peter Flick. „Wir brauchen alle für das Neue“, hatte er an Genossen und Bevölkerung, appelliert. Die SED wolle als saubere Partei vor die Menschen treten, Rechenschaft ablegen, ein Aktionsprogramm anpacken und neue Strukturen schaffen, „damit ein neuer Sozialismus entsteht“. Am 16. November berichtete die Zeitung über eine sicher vielen Menschen in Erinnerung gebliebene Dienstags-Demo auf dem Rathausplatz mit „mehreren hundert Mitgliedern der SED und Bürgern unseres Kreises“. Und weiter: „Viele der 17 Kundgebungsteilnehmer, die frei von der Leber hinweg redeten, brachten ihre Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass jahrelang in der Führungsspitze der Partei schwerwiegende Fehler gemacht und geduldet wurden, Hinweise der unteren Ebene missachtet wurden.“

Am 22. November wurde bekanntgegeben, dass der Kraftverkehr Gardelegen ab dem 25. November 1989 jeweils sonnabends mit einem Bus nach Uelzen und mit einem Bus nach Wolfsburg fährt – morgens 8 Uhr hin und 15 Uhr wieder zurück. Nach dem Rücktritt Honeckers am 18. Oktober 1989 findet am 30. Oktober in der Marienkirche ein Forum statt. „Wie nun weiter, DDR“ lautete die Fragestellung. Die Kirche war übervoll. Ein Bericht dazu fand sich am 1. November im Kreisanzeiger mit der Überschrift „Das Gespräch kam in Gang“. Man erfuhr ansatzweise, um was es ging, nämlich um Themen wie die führende Rolle der SED, die Kommunalpolitik, den zivilen Wehrersatzdienst, die Arbeit der Abgeordneten und etliches mehr. Und man erfuhr auch, dass der damalige Bürgermeister Peter Kwandt einbrachte, alle 14 Tage ein Freitagsforum stattfinden zu lassen. Das erste Forum fand dann am 3. November im Friedrich-Wolf-Theater, dem heutigen Schützenhaus, statt.

In der Ausgabe vom 21. November 1989 ging es um das zweite Freitagsforum. Wie zu erfahren war, gehörte zu den Teilnehmern auch der Leiter der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit, der Genosse Lüdecke. Und der erzählte im Friedrich-Wolf-Theater über kommende Strukturveränderungen. Ein Teil der Mitarbeiter werde anderweitige Aufgaben übernehmen und unter anderem auch in die Produktion gehen. Aus den Reihen der Zuhörer kam der Vorschlag, im Stasi-Gebäude im Rosenweg eine Kreispoliklinik einzurichten. Das wurde später zwar auch beschlossen von den „zuständigen Behörden“, wie es die Volksstimme am 7. Dezember mitteilte. Realisiert wurde das allerdings nicht. Kritisiert wurde damals übrigens auch, dass im Präsidium des zweiten Freitagsforums nur Genossen Platz genommen hatten, die Vertreter der Blockparteien und des Neuen Forums aber fehlten.

Aber auch andere interessante Berichte fanden sich in den Tagen nach dem 9. November im Kreisanzeiger. „Was kommt zusätzlich in den Kreis gerollt?“, lautete in der Ausgabe vom 25. November die Frage. Und die beantwortete Regina Schuster, Stellvertreterin des Vorsitzenden für Handel und Versorgung, ausführlich: 4,4 Tonnen Kakaoerzeugnisse, 2,5 Tonnen Zuckerwaren, 4,6 Tonnen Dauerbackwaren, 100 Kilogramm Tütensuppen, 200 Kilogramm Brühe, 70 Hektoliter Sekt, 30 Hektoliter Wein. „Vom Großhandel der OGS Klötze kommen 9,2 Tonnen Sultaninen, 8 Tonnen süße Mandeln, 1,8 Tonnen Kokosraspeln, 3,5 Tonnen Walnüsse, 8 Tonnen Pfirsichkonserven, 0,3 Tonnen Feigen, 205 Tonnen Apfelsinen aus dem NSW (aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet – Anm.d.Red.).“ Das wären 4 bis 5 Kilo Apfelsinen pro Kopf, doppelt soviel wie im Vorjahr, erfuhr der Leser damals. „Ist schon was eingetroffen“, fragte die Volksstimme. „Ja,Lebkuchen, Marzipan, Pralinen und Gouda-Käse aus Holland“, lautete die Antwort.

Im Herbst und Winter 1989/90 folgten zahlreiche Diskussionen, Foren, auch Demos, die sich mit der gesellschaftlichen Situation seinerzeit auseinandersetzten. Zunächst ging es den meisten Menschen noch um einen besseren Sozialismus und um Reisefreiheit. Das wandelte sich im Laufe der Monate. Die Forderungen nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurden lauter. Am 1. Juli 1990 kam die Währungsunion und damit das Aus für die DDR. Am 3. Oktober 1990 wurde mit den Einigungsvertrag die Wiedervereinigung besiegelt. Und damit begann allerdings auch der Ausverkauf der DDR.