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Kreisstadt Erinnerung an die Oberschulzeit

Vor 65 Jahren wurde die Oberschule in Kalbe aufgelöst.

Von Siegbert Klaffer 08.10.2020, 12:00

Kalbe l Es war ein sonniger und heißer Monat, der Juli 1953, ideal für die Getreideernte. Unsere Familie hatte nach der Vertreibung 1946 aus Niederschlesien 1951 in Thüritz eine Neubauernstelle erhalten. Wir waren dabei die Roggenernte, die der Mähbinder abgelegt hatte, aufzustellen, also Stiegen zu errichten. Da gab es überraschend Besuch: Die Leiterin der Grundschule Badel, Elly Sieckmann, kam zu Fuß auf unser Feld. Die Lehrerin wollte die Eltern überzeugen: der Sohn Siegbert möge doch die Oberschule besuchen. Kinder von Bauern und Arbeitern sollten bevorzugt höhere Bildungseinrichtungen nutzen.

Ich war zunächst nicht begeistert, weiter zur Schule zu gehen, denn mein Berufswunsch stand schon fest: Handwerker werden. Nach viel Überzeugungsarbeit und einem ordentlichen Abschluss der Grundschule (8. Klasse) ließ mein Widerstand nach und am 1. September 1954 wurde ich Schüler der neunten Klasse der Oberschule Kalbe/Milde. Die Schüler kamen aus den Schulbereichen Kalbe, Kakerbeck, Badel und Winterfeld.

Wir alle, der zusammen gewürfelte Haufen aus vier verschiedenen Schulen des Kreises, waren sehr gespannt auf die erste Unterrichtsstunde: Biologie. Biologielehrer war Ernst Dröscher, ein Lehrer im vorgerückten Alter, Fachmann der alten Schule. Die Pflanze, speziell die pflanzliche Zelle, war das zu behandelnde Thema. Die Gestik, Mimik und Rhetorik des Lehrers versetze viele – mich auch – in Heiterkeit. So einen begeistert Vortragenden hatten die meisten Schüler noch nicht erlebt. Dabei saß er nicht nur auf dem Lehrerstuhl, sondern ging hin und her, so dass er auch die Schüler im Visier hatte. Ins Schwärmen – nach seiner Art – kam er, wenn er vom Rotäugelein, einem Einzeller (Euglena viridis), sprach. Der Höhepunkt war, als er sagte: „Bekäme ich eine Tochter, dann würde sie Euglena heißen.“ Wenn eine Pflanze, ein Tier oder der Mensch Wasser abgibt, spricht man von Transpiration. Ernst Dröscher erzählte uns, dass sie als Studenten den jungen Damen beim Tanz ihre Bildung offenbaren wollten, indem sie sagten: „Ich transpiriere.“ Wenn die Dame dann erwiderte: „Mir auch“ war das Gelächter groß.

Die Sitzordnung war von Klassenlehrer Walter Jennrich festgelegt worden. Wir alle waren sehr erstaunt, dass immer ein Mädchen und ein Junge zusammensaßen, was an unserer Grundschule nicht üblich war. Jennrich war sehr schwer kriegsversehrt. Ihm fehlte der linke Arm und das rechte Bein, so dass die fehlenden Gliedmaßen durch Prothesen ersetzt waren. Beim Laufen benutzte er einen Stützstock und für lange Wege (von zu Hause zur Schule) einen Rollstuhl, den er mit dem einen Arm bewegte und lenkte. Unser Lehrer ertrug seine Behinderung mit großer Selbstbeherrschung und ohne Wehleidigkeit.

Sein Fachgebiet war Mathematik. Die Binomischen Formeln klingen heute noch in den Ohren. Der Unterricht gefiel. Jennrich baute zielstrebig bei einigen Mitschülern (besonders Mädchen) den belastenden Horror vor diesem Fach ab. Ein selbstgebauter zwei Meter großer Rechenschieber sorgte immer für Gaudi, wenn er von der Klasse benutzt wurde. Zwei Schüler mussten ihn bedienen. Diese Rechenmaschine befindet sich nun im Schulmuseum Kalbe. Walter Jennrich war bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges Lehrer in Güssefeld, wo er maßgeblich Anteil daran hatte, dass eine Badeanstalt (1936) im Wiesengelände errichtet werden konnte.

Ein weiterer Lehrer, der einen großen Einfluss auf das Werden unserer neunte Klasse hatte, war Gustav Palis, der stellvertretende Direktor. Er war zuständig für die Fächer Deutsch, Geschichte und Sport. Temperamentvoll, fördernd und fordernd sowie gerecht, geachtet und beliebt, so könnte er beschrieben werden. Zum Fach Deutsch: Das erste Diktat war von den Zensuren her eine Katastrophe und zeigte das recht unterschiedliche Leistungsniveau der Schüler. Es hagelte Fünfen und Vieren, einige Dreien, wenige Zweien und keine Eins. Das unterschiedliche Leistungsniveau konnte aber bis zum Schulende überwunden werden.

Das große Karthago führte drei Kriege: es war noch mächtig nach dem Ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten, es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten (Bertolt Brecht). Alle waren gespannt, was es diesmal für Ergebnisse geben würde. Es war durchschnittlich „Gut“, denn man konnte von Deutschland ausgehen: zwei angezettelte und verlorene Weltkriege, einen dritten hätte Deutschland nicht überstanden (Atombomben). Ich war erstaunt, als mein Deutschlehrer mich ansprach: „Siegbert, dein Aufsatz ist mit ‚Sehr gut‘ bewertet worden und er könnte in der Tageszeitung, damals auch schon die Volksstimme, veröffentlicht werden. Was meine Zustimmung aber nicht fand. Ich wollte keine Extrarolle. Es fehlte ganz einfach das Selbstvertrauen.