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Alkohol „Wär ich nicht hier, wär ich tot!“

Tagelange Sauforgien gehörten früher für ihn zum Alltag. Dank der Suchthilfeeinrichtung in Siems ist Walter F. jetzt trocken.

Von Gesine Biermann 03.08.2018, 21:00

Siems l Schön braun gebrannt ist er. Das kommt von der Arbeit im Freien. Dabei müsste er gar nicht mehr arbeiten. Mit 68 ist Walter F. (Name geändert) längst Rentner. Doch er braucht die Arbeit. Denn ohne regelmäßige Beschäftigung würde er nur „auf dumme Gedanken kommen“, sagt er und grinst. Dann nämlich würde er wieder anfangen zu trinken. Und das will er auf gar keinen Fall riskieren. Denn er weiß, wie tief man in manche Gläser fallen kann.

Dabei waren es zu Anfang gar nicht so viele davon. Eigentlich immer nur ein paar. Und „außerdem haben ja alle getrunken“, erinnert sich Walter F. an seine Jugend in Aschersleben. Bei einer Dachdeckerfirma geht er nach der Schule in die Lehre. Beenden kann er die Ausbildung allerdings nicht: Ein Arbeitsunfall macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Als er wieder arbeiten kann, bleibt er trotzdem auf dem Bau. Etliche Jahre malocht er in einem großen Zementwerk. Nach Feierabend geht es mit den Kumpels in die Kneipe „Einen heben.“ Sogar seine spätere Frau lernt er in einer Kneipe kennen. Sie trinkt allerdings nur Brause und verguckt sich dabei in den feschen jungen Bauarbeiter. Und er sich in sie. „Sie ist heute noch schmuck“, schwärmt Walter F. von seiner großen Liebe. Mittlerweile telefonieren sie nämlich beide ab und zu wieder miteinander. Seine Frau ist sie heute allerdings nicht mehr. „Und schuld bin ich selbst“, sagt er entwaffnend ehrlich, „immer besoffen, immer große Fresse, das macht eben keine Frau mit.“ Dazu kommt, dass ihn der Alkohol aggressiv werden lässt. Mehrfach landet er nach solchen Prügeleien sogar im Gefängnis. Deswegen und wegen Beleidigung. „Ich hab zum Beispiel damals mal zu unserem Bürgermeister ‚du Kommunistenschwein‘ gesagt.“

„Sie haben mir das dann politisch ausgelegt“, erzählt er. Dabei sei er auch da betrunken gewesen. „Sonst hätte ich mich das gar nicht getraut.“ Doch der Alkohol holt ihn immer weiter raus aus dem sogenannten normalen Leben. Irgendwann in den 1990er Jahren zieht der Ascherslebener schließlich selbst einen Schlussstrich, lässt sich freiwillig in eine Dessauer Einrichtung einliefern. Ein Jahr bleibt er trocken. Dann holt ihn seine Vergangenheit wieder ein.

Zweiter Versuch in Sangerhausen. Auch dort schafft er es nicht. Warum, so recht weiß er das gar nicht mehr. Um so besser erinnert er sich an seinen letzten Absturz. Eigentlich ist er gerade wieder trocken. Dann die Nachricht: Der Vater liegt im Sterben. „1200 Mark hab ich da kurzgemacht“, sagt er. Und dann sei er nicht einmal zur Beerdigung gegangen ...

Doch irgendwas an jenem letzten Vollrausch legt offensichtlich einen Schalter in ihm um. Völlig am Ende seiner Kräfte lässt er sich 2002 freiwillig nach Siems ins Heim bringen und rührt fortan keinen einzigen Tropfen Alkohol mehr an.

16 Jahre ist das jetzt her. „Die ganzen neuen Biersorten, die kenne ich gar nicht“, versichert Walter F. und: „Klar, kann man saufen, aber man kann es auch sein lassen. So einfach ist das.“

Aber so einfach war es dann eben doch nicht. Und ohne Hilfe hätte er das auch nicht geschafft, gibt der athletische 68-Jährige heute zu. „Vor allem der Anfang war schwer.“ Denn die Sucht bleibe immer, auch nach der körperlichen Entgiftung. Und wie bei jedem Menschen gebe es eben gute und schlechte Tage. An letzteren auch stark zu bleiben, sei ein Kampf. „Ich ziehe den Hut vor allen, die es schaffen.“

Wie stolz er ist, dass er es selbst geschafft hat, sieht ihm in Siems heute jeder an, und zwar nicht nur die Besucher. Offensichtlich genießt Walter F. auch unter den anderen Heimbewohnern viel Anerkennung. Er selbst wiederum ist dankbar, dass er hier sein darf. „Fakt ist: Wär ich nicht hier, wär ich tot“, sagt er ganz klar. Dass man sich tatsächlich auch totsaufen kann, weiß er aus Erfahrung: „Ich habe schon etliche Kumpels beerdigt.“

Dabei geholfen, trocken zu bleiben, habe ihm in Siems vor allem die Regelmäßigkeit, die Struktur, die jeder einzelne Tag in der Einrichtung habe, sagt Walter F. „Wir sind zehn Leute in der Wohngruppe, stehen morgens um sieben auf, frühstücken zusammen, um acht Uhr beginnt die Arbeit“, erzählt er, „tun muss jeder was, Garten, Holzwerkstatt, Küche, gehört alles dazu.“

Zudem gebe es Beschäftigungsangebote für den Nachmittag. „Und wir fahren sogar mal weg“, schwärmt er, „Polen, Bulgarien, da wäre ich allein nie hingekommen.“

Apropos Ausflüge: In ein paar Tagen macht der 68-Jährige einen, auf den er sich unglaublich freut. Ende August wird er nämlich zum ersten Mal seine Enkelkinder sehen. Der jüngste seiner drei Söhne ist Papa. „Und ich habe neulich mit meiner Exfrau telefoniert und einfach gefragt, ob ich nicht mal kommen könnte“, sagt Walter F., und sie habe gesagt: „Selbstverständlich“. Dass es das nicht ist, weiß er selbst. Deshalb freut er sich um so mehr. Doch auch sie sei froh, dass er nicht mehr trinkt. „Könnte ich zurück“, sagt er nachdenklich „würde ich wahrscheinlich gar nicht erst anfangen.“