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Wollners Alles Lüge, aber voller Wahrheit

Tabea und Tobias Wollner erinnerten auf Gut Zichtau an einen, der gleichermaßen ergreifend von Umsturz und von Liebe sang: Rio Reiser.

Von Cornelia Kaiser 21.02.2017, 02:00

Zichtau l Dieser Mann fällt auf im Publikum. Torsten Lux hat sich mit seiner Begleitung einen Platz in der Mitte der Zichtauer Orangerie gesucht, doch er ist ganz besonders nah dran am Geschehen auf der Bühne. Denn er kann am Sonnabendabend jedes Lied mitsingen, das Tabea und Tobias Wollner da im Zuge ihrer Rio-Reiser-Hommage intonieren. Sie erinnern auch am Abend drauf vor vollem Haus an den einstigen Ton-Steine-Scherben-Frontmann und späteren Solokünstler, der anfänglich als Stimme einer radikalen Linken galt, sich dann aber von vertonten Parolen wie „Keine Macht für niemand“ oder „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ verabschiedete und sich auf private Themen konzentrierte, die er in poetische und von großer Sensibilität und Melancholie getragene Texte zu gießen vermochte.

Die Krawallnummer hat er jedoch nie verlernt, wie er als „König von Deutschland“ eindrucksvoll unter Beweis stellte. Solche Ausflüge ins Pop-Fach bezeichnete er einmal als „Auf den Strich gehen“. Also kann auch Prostitution Klassiker schaffen. „Junimond“ und „Alles Lüge“ sind weitere Beispiele dafür. Und sie dürfen natürlich auch im Wollner-Programm nicht fehlen.

Torsten Lux singt sowohl bei den Agitrock-Titeln wie dem „Rauch-Haus-Song“ als auch bei Balladen wie „Für Dich“ – eine der seltenen, aber sehr ergreifenden Solonummern für Tobias Wollner – mit. Als Lux in der Pause nach dem Warum gefragt wird, macht der Miester klar: „Weil ich damit aufgewachsen bin.“ Zwar war Rio Reiser bekanntlich West-Berliner und hat dort die Hausbesetzer-Szene musikalisch aufgemischt. Doch wurden die Ton-Steine-Scherben-Songs unter anderem von der Ost-Berliner Band Freygang nachgespielt. „Und nach der Wende konnte man dann ja alle Platten kaufen.“ Genau das habe er gemacht und er höre sie noch heute mit Begeisterung, erzählt Torsten Lux. Außerdem stammt er ja nun einmal aus jenem Altmark-Dorf, in dem Rio Reiser nur wenige Tage vor seinem Tod im August 1996 im Kinosaal aufgetreten ist.

Auftritte sind auch das täglich Brot von Tabea und Tobias Wollner. Wenn sie Liederprogramme erarbeiten, dann nehmen sie sich aber nicht einfach nur die Stücke anderer Künstler, sondern sie machen immer etwas Eigenes daraus, verweben sie mit amüsanten, oft auch nachdenklich stimmenden Texten, die sie in kleine Spielszenen verpacken. Da macht „RIOs Scherben“, wie das Reiser-Programm heißt, keine Ausnahme. Das Publikum wird zur Kommune, die Bühne zur Hausbesetzer-WG-Küche, in der zwar der Kühlschrank leer, aber die Herzen voll Leidenschaft sind, in der politische Debatten geführt, Drogen konsumiert, Kraniche gefaltet werden – und es erst ans Aufräumen geht, als Mutti kommt.

Es geht in dem Programm aber vor allem um Ideale, die der viel zu jung verstorbene Rio Reiser zeitlebens verfolgt hat und wie kaum ein anderer in Musik zu packen vermochte. Und Packen ist das Stichwort. Selbst, wer bislang kaum bis gar keine Berührungspunkte mit diesem Künstler und seinem Schaffen hatte, der findet sie im großartig arrangierten Wollner-Programm, in dem sich die in der Altmark aufgewachsenen Geschwister einmal mehr als tolle Sänger, Multiinstrumentalisten, Schauspieler und Dramaturgen zeigen. Die Rio-Reiser-Liedzeile „Ich bin anders, weil ich wie alle bin – und weil alle anders sind“, sie gilt nicht nur hier und jetzt, 21 Jahre nach seinem Tod.