Ausstellung Gestohlene Kindheit

Die Ausstellung „Vergangenheit bewältigen“ in der Genthiner Bibliothek zeigt Fotos von ehemaligen DDR-Heimkindern.

Von Kristin Schulze 21.01.2017, 00:01

Genthin l Ein dunkles Kapitel DDR-Geschichte wird in der neuen Ausstellung in der Genthiner Bibliothek thematisiert. „Heimkinder in der DDR haben zum Teil gravierendes Unrecht erlebt“, so Thomas Barz in seiner Eröffnungsrede am Donnerstagabend. „Es ist eine bewegende Ausstellung, weil Sie uns einen Einblick in ihre Biografien geben. Gewalt gegen Kinder ist unerträglich und unentschuldbar“, sagte der Bürgermeister an die Künstler gewandt.

Die Ausstellung heißt „Vergangenheit bewältigen“ und ist das Projekt eines Quartetts: Die vier Künstler Brigitte Matthias, Ramona Seibicke, Torsten Ehms und Thomas Senft sind in vier unterschiedlichen Jahrzehnten geboren. Sie verbindet der Aufenthalt in Kinderheimen der ehemaligen DDR sowie das gemeinsame Hobby Fotografieren. Mit ihren Bildern verarbeiten sie die Vergangenheit und geben gleichzeitig einen Einblick in diese.

Die 33-jährige Hallenserin hat ihre komplette Kindheit in Heimen, bei Pflegeeltern und in Wohngruppen verbracht. Ihre Mutter wird wegen versuchter Republikflucht angeklagt. „Wir mussten zusehen, wie sie in Handschellen abgeführt wurde“, ist auf einer von Seibickes Schautafeln zu lesen. Zur Eröffnung der Ausstellung war die Mutter eines Sohnes leider verhindert. Die Besucher hatten aber die Möglichkeit, mit den anderen drei Künstlern ins Gespräch zu kommen.

Der 44-Jährige kommt 1987 in den Burger Jugendwerkhof, da ist er 15 Jahre alt. Grund ist seine politische Einstellung. Herzensangelegenheit ist es ihm, mit einem Vorurteil aufzuräumen: „Die Jugendlichen im Werkhof haben es verdient, die sind kriminell. Diese Meinung war und ist weit verbreitet“, sagt Ehms. „Aber kriminell waren die Wenigsten. Ich kenne keinen, der je ein Gericht von innen gesehen hat. Die Meisten haben dem Staat einfach nicht ins System gepasst.“ So war es auch bei Ehms, der heute in Erfurt lebt.

Er berichtet von Arrestzellen im Werkhof, vorgesehen für Jugendliche, die sich gegen die Erzieher stellten, unpünktlich waren oder anders auffielen. „Wenn der Aufseher das Essen brachte, musste man sofort ran. Erst den heißen Tee austrinken, dann das belegte Brot“, so Ehms. Gegessen wird in diesen Zellen im Stehen und neben dem Eimer für die Notdurft. Zwischen Pritsche und kleinem Schrank verbringt man seinen Tag. Beschäftigungsmöglichkeiten gibt es nicht. „Ich bin oft stundenlang hin und her gelaufen und habe meine Schritte gezählt, da kam man an manchen Tagen locker auf 15 000.“

Ehms verbringt einmal 42 Tage in so einer Zelle, mit achtstündiger Unterbrechung nach 21 Tagen, was eigentlich die Maximalstrafe ist. Er hatte versucht abzuhauen und sich, als er erwischt wurde, körperlich gegen einen Erzieher gewehrt. Gewehrt hatte er sich auch gegen die einseitige Darstellung der Geschichte im Unterricht. In Staatsbürgerkunde stellt er kritische Fragen. Seine Meinung, der Klassenfeind müsse doch auch gute Seiten haben, verschweigt er nicht. Das bringt ihn in den Burger Werkhof, eine Einrichtung für Jugendliche, die im Sinne der DDR-Pädagogik als schwer erziehbar gelten.

Heute ist Ehms glücklich verheiratet und hat eine Tochter. „Meine Frau war wie ich im Jugendwerkhof. Sie weiß, was dort abgeht und versteht mich in manchen Situationen einfach besser.“ Zum Beispiel, warum er grundsätzlich bei offener Tür schläft, oder bei bestimmten Geräuschen Panik bekommt.

Die 61-Jährige vermisste dieses Verständnis, wenn sie über die Vergangenheit reden wollte. Dabei sei es ein Privileg unserer Zeit, sagt die dreifache Mutter, dass man heute darüber sprechen dürfe. „Zu DDR-Zeiten ging das nicht.“

Wegen Republiksflucht ihrer Mutter kommt sie mit sechs Jahren ins Spezialheim nach Buckow, wo die Kinder politisch umerzogen werden sollen. Der Bruder kommt auch ins Heim, leider in ein anderes. „Er war drei Jahre älter, hat mich immer beschützt, auf mich aufgepasst, ein richtiger großer Bruder eben. Dass ich auf einmal ohne ihn klar kommen musste, war mit das Schlimmste für mich.“

Zwischenzeitlich lebt sie bei ihrer Oma, auch dort erfährt sie nur Schläge und Lieblosigkeit. Irgendwann wird es so schlimm, dass sie freiwillig zurück ins Heim geht. Sie kommt nach Alt-Strahlau. „Militärischer Drill, Gebrüll, Laufschritt und der abends grundsätzlich abgeschlossenen Schlafsaal“, sind Assoziationen, die ihr sofort in den Kopf schießen, wenn sie an diese Zeit denkt. Die Wut sei der Resignation gewichen. „Irgendwann habe ich nicht mal mehr geweint.“

Der 55-Jährige wird schon als Säugling ins Heim verbracht. „Meine Mutter war Analphabetin und überfordert. Für solche Leute war keine Hilfe vorgesehen, die Kinder wurden aus der Familie genommen.“ Als Dreijähriger wird er adoptiert, die neue Familie lebt in Aschersleben. Ein Grund zur Freude, bis die Adoptivmutter beginnt, ihn zu schlagen. „Ich habe viel Dresche bekommen“, fasst Senft diese Zeit zusammen. Er zieht irgendwann freiwillig ins Heim. Die Zeit dort beschreibt er als „seelischen, nervlichen und körperlichen Stress. Besser als bei meinen Adoptiveltern war es trotzdem.“ Wie seine Kollegen berichtet er von körperlichen Züchtigungen durch die größeren Heimkinder auf Geheiß der Erzieher.

Kennengelernt haben die Vier sich durch einen Fonds, der 2011 gegründet wurde, um Heimkinder für die erlittenen körperlichen und seelischen Qualen zu entschädigen. „Geschwiegen haben wir lange genug“, steht auf ihren Flyern zur Ausstellung. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, über dieses Kapitel DDR-Geschichte zu berichten. Mit ihren Fotos verarbeiten sie die Geschehnisse.

Da ist zum Beispiel ein Bild von Brigitte Matthias. Es zeigt ein Mädchen mit einer Puppe. Es drückt das Spielzeug fest an sich, als wäre diese Puppe das Einzige, was ihr geblieben ist. Das gebrochene Kinderherz, die Einsamkeit, die Hilf- und Machtlosigkeit. Das alles ist auf diesem einen Bild auf faszinierende Art und Weise eingefangen... Es ist nur eines von vielen beeindruckenden Fotos. Die Ausstellung ist bis zum 24. Februar in der Genthiner Bibliothek zu sehen.