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Erinnerung Vertrieben und fast vergessen

Zur Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurden in Genthin jüdische Geschäfte geplündert und verwüstet.

Von Simone Pötschke 09.11.2018, 00:01

Genthin l Es gibt nicht viele Überlieferungen von Zeitzeugen, die darüber Auskunft geben, wie in der Reichskristallnacht in Genthin die Kaufhäuser Hugo Magnus und Loewenthal zerstört wurden. Eine von ihnen kommt von Dieter Rohr (87). In einem Volksstimme-Gespräch erinnerte er sich: „Ich kam die Bahnhofstraße hoch und wollte direkt zur Schule weitergehen. Doch als ich nach rechts blickte, habe ich die Verwüstung bei Magnus gesehen. Da bin ich dann hingelaufen. Es war eine fürchterliche Katastrophe, es sah aus wie nach einem Luftangriff. Vom Dach haben die Nazis die guten Stoffrollen geschmissen, die teure Ware lag im Dreck. Der Fußweg vor dem Haus war mit Scherben übersät. Im gesamten Haus waren keine Fenster mehr drin. Es fehlten nicht nur die Scheiben, auch die Rahmen waren herausgebrochen worden.“
Ruth Hopp hat als Elfjährige den Pogrom in Genthin erlebt. „Auf dem Weg zur Schule bin ich am Morgen des 10. November durch die Brandenburger Straße gelaufen. Vor dem Kaufhaus Magnus standen einige Menschen. Ich blieb ebenfalls stehen und schaute auf das Kaufhaus. Das ganze Geschäft war zerstört. Scheiben waren zerbrochen, Regale umgestürzt, alles war verwüstet. Das Geschäft von Hugo Magnus glich einer Ruine. Aus dem ersten Stock haben die Männer (gemeint sind plündernde Nazis) die guten Nähmaschinen geworfen. Dann haben sie ihre Hosen runtergelassen und auf die Maschinen uriniert“.
Wenige Tage später, am 12. November 1938, verkündete die Genthiner Zeitung, dass es „nirgendwo zu Plünderungen gekommen ist.“ Bei anderslautenden Berichten würde es sich um „Lügen, Verdächtigungen und Verdrehungen der ausländischen Presse“ handeln. Zwei Tage später, am 14. November, war zu lesen , dass „alle Schäden, welche durch die Empörung des Volkes über die Hetze (...) Judentums gegen das nationalsozialistische Deutschland (...) an jüdische Gewerbetreibenden und Wohnungen entstanden sind, (...) sofort zu beseitigen sind. Die Kosten mussten die Betroffenen selbst übernehmen.
1933 zählte die jüdische Gemeinde in Genthin 29 Gläubige. Lediglich drei, vermutlich die Familie Magnus, hatten 1939 Genthin noch nicht verlassen. Angaben über säkulare Juden oder Halbjuden, die in Genthin lebten, liegen nicht vor. Gesichert ist allerdings, dass Mitte der 1930er die Genthiner Juden entweder in der Anonymität der Großstädte, bevorzugt in Berlin, Schutz suchten, oder ins Ausland flohen.
Wolfgang Schmidt, Superintendent des Kirchenkreises Elbe-Fläming i.R., führt dies darauf zurück, dass die Genthiner NSDAP bereits am 31. März 1933, ein gutes halbes Jahr vor der Pogromnacht, zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen hatte. Dem sei Nachdruck mit einem Propagandamarsch durch die Stadt und mit dem Verkleben der Scheiben jüdischer Geschäfte verliehen worden. Mehrere jüdische Geschäftsleute hatten daraufhin bereits bis 1934 Genthin verlassen. Wolfgang Schmidt beruft sich als Quelle für diese bisher kaum publizierten Angaben auf die Ortsakten des Landesverbandes jüdischer Synagogen in Sachsen-Anhalt.
Wer sich mit jüdischem Leben in Genthin beschäftigt, stößt unweigerlich auf den Namen Hugo Magnus. Der Kaufmann war seit 1902 in Genthin ansässig und stand der jüdischen Gemeinde ab 1910 bis zu ihrer Auflösung vor. Von Hugo Magnus und seiner Familie ist bekannt, dass ihr die Flucht nach Shanghai auf abenteuerliche Weise gelang und sie später nach New York übersiedelten.
Es blieb vor drei Jahren bei halbherzigen Versuchen, Genthins vermutlich bekanntestem Juden mit einem Spolperstein zu würdigen. Der Vorschlag von Privatleuten wurde nicht aufgegriffen.
Der einzige gebürtige Genthiner und Jude, dem ein Stoplerstein gewidmet ist, bleibt damit Georg Cohn (1887 bis 1843). Cohn, verheiratet mit einer Nichtjüdin, lebte als erfolgreicher Geschäftsmann in Hamburg. Er engagierte sich ehrenamtlich für die Hamburger Bezirksstelle der Reichsvereinigung der Juden. Er musste nach der Geschäftsaufgabe Zwangsarbeit leisten. Nach seiner Verhaftung kam er über das KZ Fuhlsbüttel nach Auschwitz, wo er am 14. September 1943 ermordet wurde. In Hamburg läuft seit über elf Jahren das Projekt „Stolpersteine in Hamburg - biografische Spurensuche“, in dessen Rahmen über 1000 Biografien von ermordeten Hamburger Juden erarbeitet wurden, darunter auch für den gebürtigen Genthiner Georg Cohn.
Das Leben von Hugo Magnus verlief für die Genthiner Öffentlichkeit hingegen im Sande.
Bisher jedenfalls. Auf Veröffentlichungen der Volksstimme über jüdisches Leben in Genthin und über Hugo Magnus reagierte vor kurzem Fritz Lüdecke aus Ratingen (Nordrhein-Westfalen). Lüdecke ist gebürtiger Genthiner, der im Rheinland aufwuchs. Er stellte unter anderem Recherchen im Stadtarchiv, im Kreismuseum und im Genthiner Standesamt an. Vorwiegend über das Internet ist es ihm gelungen, den Fluchtweg der Familie Magnus nach Shanghai in ganz groben Zügen zu rekonstruieren. Zur Familie gehörte auch die Tochter Leonie, der Schwiegersohn Karl Heilbrunn und der damals neunjährige Sohn Gerd, der vermutlich in Genthin geboren wurde. Bis zur Abreise am 7. Mai 1941 mit der Transsib und anschließend mit dem Schiff nach Shanghai lebte die Familie Magnus/Heilbrunn demnach in Berlin, in einem sogenannten „Judenhaus“ in der Wilhelmsdorfer Straße. Bis 1950 lebte die Familie in Shanghai. Über diese Zeit ist relativ wenig bekannt.
In einem Brief vom 24. August 1962, den Magnus an die Synagogen-Gemeinde Magdeburg von New York aus schickte, schrieb er 85-jährig: „Ich war 10 Jahre mit meiner Familie in Schanghai, dort habe ich meine erste Frau und meine einzige Tochter verloren. Man muß sich wundern, daß der liebe Gott auch die guten Menschen uns genommen hat.“
Fritz Lüdecke hat bei seinen Recherchen ermittelt, dass Magnus Ende 1950/Anfang 1951 mit dem Schiff Deutschland erreicht und in Bremerhaven wieder deutschen Boden betreten hat. Als kranker Mann wurde er in ein Hospital nach Augsburg transportiert, wo er am 12. Juni 1951 mit dem Vermerk „left for USA“ entlassen wurde.
Der Brief aus dem Jahr 1962, ließ die Magdeburger Jüdische Gemeinde auf Volksstimme-Anfrage wissen, sei der letzte Kontakt mit Hugo Magnus gewesen, über den sie verfügt.
Fritz Lüdecke hat erst vor kurzem überraschend eine Adresse eines älteren Herrn in den USA mit dem Namen Gerd Heilbrunn ausfindig gemacht. Ob es sich bei dieser Person tatsächlich um den Enkel von Hugo Magnus handelt, der mit seinem Vater nachweislich auch in die USA ausgewandert ist, ist äußerst fraglich. Hugo Magnus muss Genthin auch im hohen Alter nicht vergessen haben. In dem Brief an die Magdeburger Jüdische Gemeinde schrieb er 1962: „Als Sie, sehr geehrter Herr Rabbiner in Genthin waren, wurde mein Name nicht genannt?“