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Familienzusammenhalt Zu schwach zum Telefonieren

Erst bekam Christa Tilse aus Genthin eine Krebsdiagnose. Dann schlug das Coronavirus richtig zu. Wie die Familie durch die Krise half.

Von Susanne Christmann 07.02.2021, 00:01

Genthin l „Hier sind Eure Einkäufe. Ich mache gleich Mittagessen, soll ich für vier kochen?“ Die Frage von Babette Greuel an Christa und Joachim Tilse ist rein rhetorisch. Dass sie für die beiden Nachbarn mit kochen wird, ist längst beschlossene Sache. Denn auch wenn die beiden ihre Covid-19-Erkrankung überstanden haben – mit den Nachwirkungen haben die Tilses auch jetzt noch schwer zu kämpfen: Joachim Tilse plagen Herzrhythmusstörungen und, dass er kein Gefühl in seinen Fingern hat, sie kaum bewegen kann. Christa Tilse muss noch gegen eine andere, schwere Krankheit ankämpfen.

Denn das Schicksal hat bei den Tilses Ende vergangenen Jahres doppelt und dreifach zugeschlagen. Christa bekam im November 2020 eine Krebsdiagnose. Als sie deshalb am 28. Dezember im Krankenhaus zur Vorbereitung auf eine Behandlung war, wurde sie auch auf Covid 19 getestet. Ergebnis: positiv. Als Joachim Tilse die Aufforderung bekam, sich auf das Coronavirus testen zu lassen, musste ihm der Taxifahrer verweigern, ihn dorthin zu fahren. Da war es nicht nur seiner Frau, sondern auch ihm schon von einem auf den anderen Tag so schlecht gegangen, dass sie kaum mehr in der Lage waren, telefonisch Hilfe zu holen. Seine immer schlimmer werdenden Atemprobleme schrieb Joachim Tilse einer Infektion seiner Bronchien zu, mit der er zuvor immer schon mal zu kämpfen hatte. Weil er im Liegen keine Luft mehr bekam, schlief er im Sitzen mit dem Kopf auf der Tischplatte.

Den beiden das Leben gerettet, sind die Tilses heute überzeugt, haben mit Christa Vorpahl eine langjährige Freundin, die in Genthin ein paar Häuser entfernt wohnt und die Nachbarn Babette und Christian Greuel. Schon vor längerer Zeit hatten sich die Tilses und Christa Vorpahl angewöhnt, sich zwei mal am Tag – einmal am Morgen und einmal am Abend – gegenseitig anzurufen, um zu horchen, ob auch alles in Ordnung ist. Weil Joachim und Christa Tilse dann aber zu schwach waren, um zum Telefonhörer zu greifen, war Christa Vorpahl ganz schnell klar: Halt, hier stimmt etwas nicht. Sie alarmierte die Greuels und auch Ute, die älteste Tochter der Familie, die in Mecklenburg-Vorpommern lebt.

Der Nachbar rief den Notdienst an und die beiden wurden umgehend ins Krankenhaus gebracht. Joachim Tilse sagt über diesen Zeitpunkt: „Ich habe gedacht, wir werden das neue Jahr nicht mehr erleben.“ Die 15 Tage auf der Isolierstation im Krankenhaus hat er erlebt „wie in Einzelhaft.“ Zwischenzeitlich ging es ihm so schlecht, dass seine Frau das Gefühl hatte, er wolle nicht mehr. „Du darfst mich nicht allein lassen, du darfst nicht aufgeben,“ forderte sie von ihm. Mit einem unbändigen Lebensmut kämpfte Christa Tilse zeitgleich an zwei Krankheitsfronten. Ihre Krebserkrankung ließ keinen Aufschub zu, so dass sich der Onkologe und die Ärzte auf der Covid-19-Station gegenseitig an Christa Tilses Zimmer die Klinke in die Hand gaben.

Tilses haben die Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern erlebt wie „Marsmenschen“, die ihre Schutzkleidung jedes mal aufs Neue an- und dann wieder zum Entsorgen noch im Zimmer ablegten, damit das Virus nicht darüber aus den Zimmern heraus getragen werden konnte. Andere Kontakte waren nicht möglich. Tochter Ute durfte die Sachen für ihre Eltern, die sie ihnen auf Wunsch brachte, nur an der Stationstür abgeben – mit ihren Eltern reden durfte sie nicht.

Auch ein Blick aus dem Fenster war nicht möglich. Damit niemand hinein gucken konnte, waren die Scheiben mit undurchsichtigem Papier abgeklebt. An ein Beatmungsgerät angeschlossen werden zu müssen blieb beiden Tilses erspart. Sie kamen mit der zusätzlichen Sauerstoffgabe aus. Auch die ersten Tage im Krankenhaus, erinnert sich Joachim Tilse, seien beide noch zu schwach zum Telefonieren gewesen. „Wir haben mehr oder weniger nur vor uns hin dösen können.“ Später konnten sie der drohenden Vereinsamung aber wieder mit Telefongesprächen begegnen.

Nach fünfzehn Tagen durften Christa und Joachim Tilse die Klinik wieder verlassen. Aber nur, weil Tochter Ute versichert hatte, dass sie die beiden daheim so lange pflegen würde, bis sie sich wieder selbst versorgen könnten. Ansonsten hätten die Tilses in eine Pflegeeinrichtung gebracht werden müssen. Wieder in ihrer schönen Wohnung leben zu können, hat den Tilses neuen Lebensmut gegeben. Genauso wie die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Nachbarn bis heute um die beiden kümmern.

Dass diese Gemeinschaft nicht erst seit der Corona-Erkrankung der Beiden gepflegt wird, möchten die Tilses unbedingt erwähnt wissen. Joachim Tilse hat beispielsweise als gelernter Bankkaufmann und studierter Verbands-Prüfer für alle Familien in den Wohnungen auf dem Dach des Hauses die jährliche Betriebskosten-Abrechnungen durchgesehen und -gerechnet. Und damit meistens Rückzahlungen für alle herausholen können. Das schafft er jetzt noch nicht, würde es aber sehr gern bald wieder machen können.

Für Christa Tilse, die gelernte Herrenschneiderin, sind Babette und Christian Greuel als ihre „Ersatzkinder“ ans Herz gewachsen. Dabei hat Christian Greuel selbst als frühzeitig invalide Geschriebene ein gewichtiges Krankheitspäckchen zu tragen. Christa Tilse vermisst die Mobilität, mit der sie vor der Erkrankung zwei-, drei mal im Jahr die Kinder, Enkel, Urenkel – die Geburt des 17. Urenkels steht in diesen Tagen an – und auch schon einem Ururenkel besuchen gefahren sind. Joachim Tilse würde gern wieder so bewegliche Finger haben, dass er Papiere selbst unterschreiben kann.

Weil die Krankheit für sie „die Hölle“ war, kann Joachim Tilse Corona-Witze einfach nicht mehr hören. „Wir unterstützen voll und ganz die bisher vom Staat ergriffenen Maßnahmen gegen das Coronavirus und haben kein Verständnis für selbsternannte Fachleute, die nicht selbst erkrankt sind und sich nicht an die Hygieneregeln halten wollen“, erklärt Joachim Tilse unmissverständlich.