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Gerechtigkeit Keiner gibt gern zu: „Ich bin arm“

Am 20. Februar ist der Welttag der sozialen Gerechtigkeit. Was aus Gewerkschaftssicht dafür zu tun ist.

Von Susanne Christmann 20.02.2021, 07:00

Burg/Genthin l Nicht nur unter Gerechtigkeit allgemein, auch „unter sozialer Gerechtigkeit“, weiß Katrin Skirlo, „versteht jeder ein bisschen was anderes.“ Gerecht sei immer das, so die Geschäftsführerin der Region Altmark-Börde-Harz des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in einem Gespräch mit der Volksstimme, was der Einzelne als gerecht empfinde. Als Gewerkschafterin verbinde sie mit sozialer Gerechtigkeit gute Arbeits- und Lebensbedingungen, gleiche Bildungs- und Ausbildungschancen und vor allem Verteilungsgerechtigkeit bei Einkommen und Vermögen.

Wie ungleich die Verteilung von Löhnen und Einkommen auch im Jerichower Land oftmals ist, erfährt Reinhold Seidel, ehrenamtlicher Berater im DGB-Service-Büro in Burg in der Schartauer Straße 11, in vielen Gesprächen (die derzeit coronabedingt nur telefonisch stattfinden dürfen). Immerhin seien nur 24 Prozent der Unternehmen in Sachsen-Anhalt tarifgebunden (Zahl aus dem Jahr 2019). Für deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber könnten die (Einzel-)Gewerkschaften als starker Sozialpartner einiges heraushandeln. Die Stärkung der Tarifbindung stehe also ganz oben auf der Agenda der Gewerkschaften, auch im Jerichower Land.

Die Corona-Pandemie wirke auch hier in der Region als Verstärker der sozialen Ungleichheit, sagt Katrin Skirlo. Es bestätige sich die Erkenntnis einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. Darin wurde untersucht, welche Einkommensverluste Beschäftigte durch die Corona-Pandemie erleiden mussten. Rund 32 Prozent der Befragten gaben an, dass sie wegen der Corona-Pandemie Einkommenseinbußen hinnehmen mussten, sei es durch Arbeitslosigkeit, Reduzierung der Arbeitszeit oder Kurzarbeit, heißt es dazu im Verteilungsbericht des DGB.

Nicht alle seien jedoch gleich von dieser finanziellen Verschlechterung betroffen. So müssen vor allem Haushalte mit niedrigem Einkommen häufiger Verdiensteinbußen erleiden als höhere Einkommen: Je höher die Einkommen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit und gegebenenfalls das Ausmaß, finanzielle Einbußen verkraften zu müssen. Die gewerkschaftliche Organisierung hingegen hätte eine absichernde Wirkung. Beschäftigte in Betrieben mit Tarifvertrag würden seltener Verluste beklagen. Gehaltseinbußen seien häufig mit prekären Beschäftigungsverhältnissen verknüpft.

Reinhard Seidel, der gemeinsam mit anderen Ehrenamtlichen in Burg nicht nur Gewerkschaftsmitglieder, sondern auch alle anderen, nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu sozialen Fragen berät, erfährt immer wieder, dass kaum einer der Betroffenen gern zugebe und sagen würde „Ich bin arm“. Wenn aber die Rezepte, die der Arzt verschreibt, daheim im Papierkorb landen, weil kein Geld mehr übrig sei für Zuzahlung oder das eigentlich preiswerte Medikament gegen den Schnupfen auf Privatrezept, dann weiß Seidel: Dafür reiche die Grundsicherung, von der jemand seinen Lebensunterhalt bestreiten müsse, in der Regel fast nie. Vor allem Ältere würden ihre Armut oft verstecken und zum Beispiel nur ihm gegenüber in der Beratung sagen: „Hoffentlich wird der Winter nicht so arg, denn neue Stiefel sind nicht drin.“ Oft ginge das auch einher mit dem Fehlen familiärer und anderer sozialer Verbindungen, mit Vereinsamung. Vier Tage, so sagt Reinhold Seidel mit Bitternis, habe eine Dame, die oft ins Büro gekommen sei, tot in ihrer Wohnung gelegen, bis sie jemand gefunden habe.

Altersarmut betreffe etwa gut 20 Prozent der Senioren in Sachsen-Anhalt und sei eben auch hier im Jerichower Land zu spüren, so Seidel. Tarifgebundene, auskömmliche Löhne – und der gewerkschaftliche Kampf um diese – helfe deshalb auch, mögliche, künftige Altersarmut gar nicht erst entstehen zu lassen, so Katrin Skirlo. Der ausgehandelte, gesetzliche Mindestlohn, der 2015 wirksam wurde, sei ein gutes Instrument, um mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen. Aber zufrieden könne man mit seiner Höhe nicht sein. Auf mindestens 12 Euro pro Stunde müsse der, so die Gewerkschafterin, angehoben werden, um als absolute Untergrenze für ein existenzsicherndes Niveau gelten zu können. Auch hier: Ein höherer Mindestlohn trage ebenfalls zur Verhinderung von Altersarmut bei.

Altersarmut verhindern beginne aus gewerkschaftlicher Sicht, so Katrin Skirlo, aber noch sehr viel früher. „Wir sind sehr froh darüber“, sagt sie, „dass wir daran mitgewirkt haben, dass es in Sachsen-Anhalt seit dem 1. Januar 2021 endlich ein Azubi-Ticket gibt.“ Gerade in einem Flächenkreis wie dem Jerichower Land helfe dies den jungen Leuten sehr, mobil zu sein, beziehungsweise zu bleiben und problemloser zur Berufsschule und dem Ausbildungsbetrieb zu kommen. Auch wenn die Azubis in Sachsen-Anhalt wohnen, aber in einem anderen Bundesland ihre Ausbildung machen würden, dürften sie das Azubi-Ticket nutzen – 24 Stunden rund um die Uhr.

Für 50 Euro (im Abonnement), so führt es der Mitteldeutsche Verkehrsverbund (MDV) auf seiner Internetseite aus, können Azubis in dualer Ausbildung quer durch Sachsen-Anhalt fahren. Egal, ob sie auf dem Weg zur Berufsschule sind oder in ihrer Freizeit die Familie besuchen, die Fahrt mit Zug, S-Bahn, Tram und Bus ist im Ticket enthalten. Einzige Voraussetzung: Ausbildungs- oder Wohnort befinden sich in Sachsen-Anhalt.

Für mehr soziale (Verteilungs-)Gerechtigkeit, so Seidel und Skirlo, würden auch die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer, eine gerechtere Einkommenssteuer und eine reformierte Erbschaftssteuer sorgen. Themen, die traditionell von den Gewerkschaften deshalb vorangetrieben würden. Würde die Tarifbindung wirksam ins Vergabegesetz eingebunden werden, würde dies ebenfalls für mehr Verteilungsgerechtigkeit sorgen.