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Geschichte  Bismarck-Guides zeigen Ausstellung

Die Ausstellung „Justiz im Nationalsozialismus“ wird am Montag im Bismarck-Gymnasium eröffnet. Sechs Schüler bieten Führungen an.

Von Kristin Schulze 23.01.2017, 00:01

Genthin l Sechs Neuntklässler des Bismarck-Gymnasiums sind seit Freitag Fachfrauen und -männer zum Thema „Justiz im Nationalsozialismus“. Sie führen ab Montag, 23. Januar, durch die gleichnamige Ausstellung in der Aula ihrer Schule.

Dabei handelt es sich um eine Wanderausstellung der Gedenkstätten Sachsen-Anhalts. Intensiv mit der Justiz zur NS-Zeit beschäftigt hat sich Michael Viebig von der Gedenkstätte „Roter Ochse“ in Halle. Genthin ist bereits der 22. Ort, an dem die Ausstellung gezeigt wird. „Gewaltig“, kommentiert Viebig den Erfolg des Projekts, das an jedem Ausstellungsort um Schautafeln, die sich mit der regionalen Geschichte beschäftigen, erweitert wird.

Zur Genthiner Justiz in der NS-Zeit forschten Dr. Daniel Bohse von der Gedenkstätte Moritzplatz in Magdeburg sowie Jerome Kageler. Der Genthiner absolvierte im vergangenen Jahr sein Abitur am Bismarck-Gymnasium und macht gegenwärtig ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Gedenkstätte. Ein Politikstudium soll wahrscheinlich folgen.

Viebig, Bohse und Kageler waren am Freitag im Bismarck-Gymnasium vor Ort. Nicht nur, um die Tafeln aufzubauen, sondern auch um die Guides einzuweisen. Leonie Hoffmann, Anabell Guckuk, Henrike Ritz, Angelique Gorgas, Luis Kühnl und Tom Neumeister bringen beste Voraussetzungen mit: Sie sind geschichtsinteressiert, aufnahmefähig und haben sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet.

Nicht nur für die Schüler, auch für die Experten, gibt es in Genthin eine Premiere. Zum ersten Mal sind die Tafeln in einer Schule zu sehen. Bisher wurden sie immer in Gerichten gezeigt. Im Burger Amtsgericht wurde Genthins Schulleiter Volker Schütte auf die Ausstellung aufmerksam und holte sie, weil Genthin kein Amtsgericht hat, ins Bismarck-Gymnasium. „Eine tolle Gelegenheit für uns“, sagt Jerome Kageler.

Gemeinsam mit Daniel Bohse beschäftigte er sich für die Genthiner Schautafeln zum Beispiel mit dem Eisenbahnunglück von 1939. Damals war ein Schnellzug aus Berlin auf einen stehenden Zug in Genthin aufgefahren. Etwa 278 Tote und 453 Verletzte verdeutlichen das Ausmaß der Tragödie. Vor Gericht stand der Lokführer des aufgefahrenen Zugs. Die Verhandlung wollten so viele Genthiner sehen, dass der Platz im kleinen Amtsgericht nicht ausreichte. Ab Tag zwei wurde in einem der größten Räume verhandelt, die Genthin zu bieten hatte: in der Aula des Bismarck-Gymnasiums.

Daniel Bohse sagt: „Der Prozess gegen den Lokführer zeigt, dass 1940 durchaus noch rechtsstaatliche Mechanismen gegriffen haben.“ Es gab mehrere Verhandlungstage, die Öffentlichkeit durfte dabei sein, der Angeklagte hatte einen Verteidiger, Zeugen wurden gehört. Der Lokführer wurde zu drei Jahren Haft verurteilt.

Demgegenüber haben die Macher der Ausstellung den Prozess gegen zwei „Leichenschänder“ gestellt. Felix Küchler und Alfred Chartee waren im Auftrag eines Berliner Bestattungsunternehmens für das Einsargen der Opfer des Zugunglücks zuständig. Sie hatten den Leichen Kleidung, Schuhe und Geld gestohlen. Sie kamen vor das Magdeburger Sondergericht. „Diese Prozesse sind oft Beispiele für Verhandlungen, die mit Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun haben“, erklärt Bohse. Angeklagt waren die Täter wegen Diebstahls, dafür sah das Gesetz nicht die Todesstrafe vor. Der Staat wollte aber Härte demonstrieren und so gelang es doch, beide zum Tode zu verurteilen. Wie? Es griff die „Verordnung gegen Volksschädlinge, die im September 1939 erlassen wurde. Sie besagte, dass das regelmäßige Strafmaß überschritten werden kann, wenn das gesunde Volksempfinden verletzt wurde. „Das Problem dabei ist“, erklärt Bohse, „dass vollkommen im Auge des Betrachters liegt, was das gesunde Volksempfinden überhaupt ist.“ Quasi eine Steilvorlage für staatliche Willkür. Die beiden Leichenschänder jedenfalls wurden zum Tode verurteilt, noch bevor der Prozess gegen den Lokführer überhaupt begonnen hatte.

Daniel Bohse sagt: „Der für mehr als 200 Tote verantwortliche Lokführer bekommt drei Jahre Haft, zwei Männer die Tote bestohlen haben, so verwerflich das auch sei, werden mit dem Tod bestraft. Ich lasse das einfach mal so stehen.“

Die Ausstellung lebt von solchen Einzelschicksalen. Zum Beispiel dem des Elektromeisters, der einem Kriegsgefangenen die Haare geschnitten hatte. Weil der Umgang mit Kriegsgefangenen streng verboten war, musste er 500 Reichsmark, was etwa drei Monatsgehältern entsprach, zahlen. Oder dem des tauben Ehepaars aus Quedlinburg, das drei gesunde Kinder hatte und trotzdem zwangssterilisiert wurde, weil der Staat ausschließen wollte, dass doch noch Kinder ohne Gehör von ihnen gezeugt würden. „Das fiel unter das Erbgesundheitsgesetz“, erklärt Viebig. „Wer sich vermehren durfte, entschied ab 1933 der Staat.“ Epileptiker, Blinde, Taube oder Hilfsschüler durften es nicht.

Die sechs Neuntklässler sind den Ausführungen der Experten aufmerksam gefolgt. Sie führen ab Montag durch die Ausstellung. Dabei suchen sie sich Schwerpunkte aus, eine Führung dauert 20 bis 30 Minuten. Danach haben die Besucher Gelegenheit, die Schautafeln selbstständig zu entdecken. Die Experten verstehen es, den Schülern die Angst zu nehmen. „Wenn ihr Fragen nicht beantworten könnt, verweist ihr auf die Tafeln oder uns“, sagt Bohse. Viebig ergänzt: „Niemand weiß alles.“ Das zu bekennen sei viel besser als rumeiern.“

Die Ausstellung sei heute aktueller denn je, gibt Viebig den Schülern noch mit. Auch gegenwärtig würde oft die Forderung laut, Ausländer, zum Beispiel nach Anschlägen, besonders schnell abzuurteilen. Viebig: „So etwas gab es schon mal.“ Schulleiter Volker Schütte sagt: „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.“

Wer die Vergangenheit besser kennenlernen will, dem bietet die Ausstellung eine ideale Gelegenheit.