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Geschichte So wählten die Genthiner vor 73 Jahren

Als die Genthiner 1946 zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wählen gingen, war es eine ganze andere Wahl als heute.

Von Martin Walter 25.05.2019, 01:01

Genthin l „Im letzten Vierteljahr wurden 425 Paar Schuhe, 1785 Stück Leibwäsche, 202 Stück Hauswäsche und 707 Stück Oberbekleidung ausgegeben.“ Was die SED damals als Erfolg verbuchte, mutet heutzutage schon ein wenig seltsam an.

Die Aussage stammt jedoch aus dem Jahr 1946. „Vielleicht ist dieser kleine Rückblick in die schwere Zeit vor 73 Jahren ganz interessant im Vergleich zu den Zielen heute“, sagt Antonia Beran, die Leiterin des Kreismuseums Jerichower Land. Sie stellte der Volksstimme das Wahlprogramm der SED zur Verfügung.

Darin propagiert die Partei bereits ihren Führungsanspruch, indem es heißt: „Am 8. September ist Wahl – überlegt euch, was die SED für euch geleistet hat. Der Bürgermeister der Stadt Genthin und die Dezernenten sind Mitglieder der SED, ebenso 90% der Verwaltungsangestellten der Stadt.“

Es folgt eine Liste der nach dem Kriegsende erreichten Erfolge sowie die Ziele für die nächsten zwei Jahre. „Immerhin ist die damals geplante Umgehungsstraße (Geschwister-Scholl-Straße) inzwischen verwirklicht“, nennt Antonia Beran ein Beispiel daraus. Weiterhin ist die Rede davon, die zerstörte Amtsbrücke aufzubauen, „wenn genügend Zement vorhanden ist.“ Und außerdem: „Der Ernst-Thälmann-Platz (Marktplatz) wird zu einer Anlage zur Freude und Erholung für alle Einwohner umgestaltet werden.“

Dr. Stefan Wolle, wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums in Berlin, weist darauf hin, dass „die SED damals noch einen eigenständigen deutschen Weg zum Sozialismus proklamierte“, also keine Übernahme des sowjetischen Modells. Das sei auch am Programm zu erkennen. „Dort ist ausschließlich von kommunalen Angelegenheiten die Rede.“

Wie aus weiteren Dokumenten des Kreismuseums hervorgeht, gewann die SED die erste Genthiner Gemeindewahl nach dem Krieg am 8. September 1946 mit 48,59 Prozent der Stimmen. Die SPD wurde bereits im April desselben Jahres auf Druck der sowjetischen Besatzungsmacht mit der KPD zur SED zwangsvereinigt. Dennoch sei rein formal streng auf die Einhaltung der Parität geachtet worden, so Stefan Wolle. „Sicherlich gaben deswegen viele Wähler der SED ihre Stimme, die sie gern der Sozialdemokratie gegeben hätten.“

Die LDPD, die nach der Wende in der FDP aufging, erlangte 29,31 Prozent. Die CDU bekam 18,19 Prozent der Stimmen. „Die CDU und die LDPD verfügten zu dieser Zeit noch über gewisse Spielräume gegenüber der SED“, sagt Stefan Wolle. Weiterhin nahmen noch Massenorganisationen wie die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe an der Wahl teil, erreichten aber in Genthin keine nennenswerten Stimmenanteile.

Die Wahlbeteiligung lag bei 93,9 Prozent. Von freien Wahlen könne dennoch keine Rede sein, erklärt Stefan Wolle: „Die SED wurde von der Besatzungsmacht einseitig unterstützt. Sie hatte den gesamten Propagandaapparat in der Hand, und unterband die Wahlwerbung der anderen Parteien.“