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Barrierefreiheit Noch viele Stufen zu schleifen

Wie lassen sich Barrieren überwinden? Mit dieser Frage beschäftigen sich die Mitglieder des Aktionsbündnisses „Landkreis Harz inklusiv“.

Von Dennis Lotzmann 27.11.2015, 00:01

Halberstadt l Das Aktionsbündnis „Landkreis Harz inklusiv“ hat in den vergangenen Monaten mit rund 100 Mitgliedern arbeitsfähige Strukturen aufgebaut. Das Ziel, das alle Mitstreiter eint, ist klar: Ein Aktionsplan soll erarbeitet werden, um die Vorgaben der UN-Behindertenrechts-Konvention so schnell wie möglich auch im Harz umzusetzen. Das Papier, 2009 vom Bundestag als auch für Deutschland verbindlich anerkannt, fordert ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben für alle Menschen – egal, ob gehandicapt oder ohne Einschränkungen.

Aus Sicht des Bündnisvorsitzenden Detlef Eckert nimmt der Harzkreis mit diesem Engagement im landesweiten Vergleich eine Vorreiterrolle ein. „Nach Anhalt-Bitterfeld und dem Raum Burgenlandkreis/Saalekreis sind wir der dritte Landkreis, der an dem Projekt zielgerichtet arbeitet“, so Detlef Eckert zur Volksstimme. Das ändere freilich wenig daran, dass es bis zum Ziel, der vollständigen Inklusion im Alltag und in den Köpfen der Menschen, noch ein sehr weiter Weg sei. Eine zeitliche Prognose will der 64-Jährige, der nach einem Motorradunfall seit 42 Jahren selbst körperlich gehandicapt ist, nicht machen. „Ich denke in diesem Punkt immer an Finnland. Die Finnen haben 1962 damit begonnen, kontinuierlich durchgezogen und nach etwa 30 Jahren die letzte Sonderschule geschlossen“, berichtet Eckert. „Wir in Deutschland stehen dabei noch ganz am Anfang.“

Der Linkspolitiker, der im Halberstädter Stadtrat mitarbeitet, kennt die Materie wie kaum ein anderer im Harz. Er ist Mitbegründer des Deutschen Behindertenrates und in diesem Jahr dessen Koordinator. Erst kürzlich weilte er mit dem Gremium bei Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). „Und bei der UN-Fachtagung in Genf ist deutlich geworden, welche Kritik und Sorgen es in Sachen Gleichstellung in Deutschland noch gibt“, berichtete er bei der Tagung des Aktionsbündnisses.

Geht es um die Frage, wie viele Harzer von der Thematik Inklusion tangiert werden, überraschen die Zahlen, die Eckert präsentiert. „Rund 18 000 von insgesamt 220 000 Harzern sind amtlich als Behinderte anerkannt.“ Das seien längst nicht alle. „Im Prinzip profitieren vom Wegfall von Hürden und Barrieren alle Menschen jenseits des 65. Lebensjahres sowie alle Eltern mit kleinen Kindern“, ergänzt der Streiter für einen barrierefreien Alltag. Letztlich sieht er eine Quote von 35 bis 45 Prozent im Harz, die Tendenz sei wegen des steigenden Durchschnittsalters in der Bevölkerung steigend.

Allerdings seien nach Jahrhunderten des Stufenbaus und der Sonderschulen nicht nur bauliche Korrekturen nötig. „Wir brauchen ein Umdenken in den Köpfen und eine bessere personelle Ausstattung“, mahnt Eckert. Letzteres sei vor allem in den Schulen wichtig.

Im Harzkreis habe eine Bildungskonferenz des Bündnisses ergeben, dass noch weit mehr Anstrengungen hinsichtlich des angestrebten gemeinsamen Unterrichtes nötig seien, so Eckert. Aber: „Wir brauchen mehr Menschen, die sich mit uns engagieren“, betonte Eckert.

Und damit nicht genug. Soll die Inklusion gelingen, also beispielsweise Kinder mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen allumfassend im „normalen“ Unterricht integriert werden, sei mehr Personal nötig. Ein Punkt, den vor allem Pädagogen immer und immer wieder ansprechen.

Doch wie soll das gelingen in einer Zeit, in der an vielen Schulen personelle Engpässe herrschen? Erst in dieser Woche war die Goethe-Grundschule in Halberstadt in die Schlagzeilen geraten. Dort fallen aufgrund eines hohen Krankenstandes und nicht genügen Vertretungslehrern Stunden aus, müssen Klassen zusammengelegt werden. Auch Lehrer zeigen sich, auf das Thema Inklusion angesprochen, offen, erinnern aber an den Knackpunkt: „Es kann nur gelingen, wenn der personelle Rahmen vorhanden ist.“ Eckert steckt – ebenfalls mit Blick nach Finnland – den Rahmen ab: Kleine Klassen mit 15 bis 20 Kindern und ständige pädagogische Begleitung mit bis zu drei Lehrern pro Klasse. Die Realität an Harzer Schulen sieht anders aus: An der Halberstädter Goethe-Grundschule entstanden mit Zusammenlegung gerade zwei 3. Klassen mit jeweils 29 Schülern.

Der Vorteil von Inklusionsklassen sei belegt, sagt Eckert: „Die behinderten Kinder haben höhere Leistungen, den nicht beeinträchtigten Kinder wird mehr soziale Kompetenz vermittelt. Davon haben letztlich alle etwas.“

In Landrat Martin Skiebe haben Eckert und die Mitstreiter des Bündnisses einen Partner mit offenen Ohren gefunden. Der CDU-Politiker ist Schirmherr und „versucht, die Inklusion im Harz im Rahmen seiner Mittel voran zu bringen“, betont Eckert. Die Bemühungen im Harz lobte in der Tagung auch Adrian Maerevoet, Behindertenbeauftragter des Landes, in einem verlesenen Grußwort.