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Advent Die einsamste Zeit des Jahres

Nicht alle Menschen im Harz blicken den Festtagen froh entgegen. Für viele beginnt jetzt eine schwere Zeit.

Von Sandra Reulecke 11.12.2016, 00:01

Blankenburg l Adventszeit: Dekoration und Lichter so weit das Auge schaut, Duft nach Plätzchen, ausgelassene Stimmung auf den Weihnachtsmärkten. Doch nicht alle Menschen empfinden die Wochen um das Fest als fröhlich.

Laut Welt-gesundheitsorganisation WHO erleiden rund 25 Prozent der europäischen Bevölkerung in einem Jahr Depressions- oder Angstzustände. Das Auftreten solcher Erkrankungen kann mit den Jahreszeiten zusammenhängen, sagt Dr. Wolf-Rainer Krause, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Blankenburg.

„Zum einen ist es jetzt lange dunkel und das kann sich auf die Psyche auswirken“, berichtet der Mediziner. Mögliche Symptome: Niedergeschlagenheit, Interesselosigkeit, Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen bis hin zur gesteigerten Reizbarkeit. Doch nicht jeder, der sich im Winter schlecht fühlt, ist deshalb krank. „Es gibt Menschen, die aufgrund der fehlenden Sonne an einer saisonalen Depression leiden, aber viel häufiger ist die Kombination aus verschiedenen Faktoren“, erläutert Krause.

So spielt zum Beispiel bei Saisonarbeitern, die in der kalten Jahreszeit nicht beschäftigt sind, ihre Arbeitslosigkeit eine Rolle. Zudem sind Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend Faktoren, die eine psychische Krankheit bedingen. „Außerdem sehen wir immer wieder, dass Depressionen mit einer Suchterkrankung einhergehen“, sagt der 66-Jährige. „Gerade jetzt lockt mit den Weihnachtsmärkten überall die Versuchung.“ Wer feststellt, dass Freunde oder Verwandte auffällig tief in den Glühweinbecher schauen, sollte sie in einer ruhigen Situation darauf ansprechen.

Am schwersten ist die Adventszeit nach Ansicht des Chefarztes jedoch für Menschen, die einsam sind. Statt in geselliger Runde zu feiern, fallen sie in ein tiefes Loch. „Im Winter und gerade zu den Feiertagen spüren sie ihre Isolation und das Fehlen von sozialen Kontakten sehr deutlich.“ Wenn Geschäfte, Restaurants und Kinos geschlossen sind, fehlt Ablenkung, das Grübeln beginnt.

„In diesem Zusammenhang ist die Altersdepression nicht zu unterschätzen“, betont Wolf-Rainer Krause. „Das Ende des Jahres ist eine Zeit, in der viele Bilanz ziehen.“ Körperliche Gebrechen und Schmerzen belasten zusätzlich. Und nicht selten leben Rentner vereinsamt: Die Familien wohnen aus beruflichen Gründen weiter weg, Freunde sind bereits verstorben. „Aus meiner Sicht wäre es gut, keine teuren Geschenke zu besorgen, sondern seine Zeit zu schenken – zum Beispiel einem Rentner in der Nachbarschaft, von dem man weiß, dass er die Feiertage sonst allein verbringen würde.“

Depressionen im Alter – insbesondere der schwersten Form, die im Selbstmord endet – sind keine Randerscheinung. Laut dem Statistischen Bundesamt kamen in der Altersgruppe 85 bis 89 Jahre 2014 durchschnittlich 34,5 Suizide auf 100 000 Einwohner. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum waren es bei den 45- bis 49-Jährigen 14,5. Was die Situation erschwert, ist laut Krause die Tatsache, dass die Symptome einer Depression und einer Demenz sich ähneln. Die Patienten werden sogar von Ärzten falsch diagnostiziert und behandelt. „Es ist wichtig, dass Ärzte zu diesem Thema besser geschult werden“, so der Experte. „Denn die gute Nachricht ist: Eine Depression, auch im Alter, lässt sich heutzutage gut behandeln, vor allem, wenn sie früh erkannt wird.“

Aber wie merken Angehörige, ob ein Familienmitglied erkrankt ist? „Die Eingrenzung ist schwierig. Vieles in der Psychotherapie ist eine Einzelfallentscheidung. Es ist nicht wie beim Fiebermessen, wo man genau weiß, ab wann Handlungsbedarf besteht.“

So sei es grundsätzlich normal, wenn ein Mensch nach einem schweren Verlust wie dem Tod eines Partners trauert, weint und sich zurückzieht. „Das betrifft nicht nur die direkte Zeit danach, auch der erste Geburtstag und gerade das erste Weihnachten nach einem Todesfall sind schwer“, so Krause. „Das Trauerjahr, das man von früher kennt, hat durchaus seine Berechtigung.“

Der Neurologe rät dazu, den Trauenden Raum für ihre Gefühle zu geben. Es sei besser, auch heikle Themen anzusprechen als aus Scham oder Unsicherheit nichts zu tun. „Wenn derjenige dann allerdings auffällig oft davon spricht, sein Testament gemacht zu haben oder Sätze fallen, wie ‚ich folge ihr bald‘, sollte man hellhörig werden.“ Dann sollten Angehörige nachhaken, wie diese Aussprüche genau gemeint sind. „Wenn sich ein Familienmitglied stark verändert, sich zurückzieht und keine Zukunftspläne mehr hat, sollte man es darauf ansprechen.“ Im Zweifelsfall sollte man den Hausarzt desjenigen kontaktieren und seine Bedenken äußern. „Das beste ist, denjenigen zum Arzt zu begleiten. Dieser kann dann feststellen, ob und was für eine Therapie erforderlich ist.“

Und wie geht man mit Menschen um, die gerade eine stationäre Therapie beendet haben? „Möglichst normal“, sagt Wolf-Rainer Krause. „Man kann sie nicht wie ein rohes Ei behandeln. Konflikte gehören zum Leben dazu.“