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Antisemitismus Zwiespalt zwischen Offenheit und Sicherheit

Wie reagieren Gäste und Mitarbeiter des jüdischen Museums in Halberstadt auf den Terroranschlag in Halle?

10.10.2019, 23:01

Halberstadt l Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell. Keine 24 Stunden nach dem Anschlag auf eine Synagoge in der Saalestadt Halle häuften sich die E-Mails von besorgten Menschen aus Israel und Amerika in ihrem Postfach, berichtet Jutta Dick. Anrufe aus aller Welt gingen bei ihr ein. Der Tenor: „Was ist da bei euch los? Was können wir tun?“
Jutta Dick ist die Leiterin der Halberstädter Moses-Mendelssohn-Akademie (MMA), zu dem das angeschlossene Berend-Lehmann-Museum für jüdische Geschichte und Kultur gehört – das einzige seiner Art in der Region.
Im ehemaligen Rabbinerseminar, der Klaussynagoge, ist zudem eine internationale Begegnungsstätte untergebracht. Dort finden häufig Tagungen, Seminare und andere Veranstaltungen statt. Nicht selten handelt es sich bei den Gästen um Rabbiner und um Nachfahren von jüdischen Familien, die in der NS-Zeit aus Halberstadt geflohen sind oder deportiert wurden. „Es ist unbegreiflich für sie, dass so etwas heute in Deutschland passieren kann“, fasst Jutta Dick die Korrespondenz zusammen. Besonders diejenigen, die Halberstadt – keine 80 Kilometer Luftlinie von Halle entfernt – schon einmal besucht haben, seien angesichts der Tat fassungslos. „Sie haben sich hier sicher gefühlt. Hier wurde ihnen Gastfreundschaft entgegengebracht, einige haben Freundschaften zu Halberstädtern geknüpft.“ Der Anschlag in Halle schüre Angst bei den Familien. „Man ist so hilflos, was man ihnen sagen soll“, berichtet Jutta Dick.
Erschüttert sind auch sie und ihre Mitarbeiter. „Sie waren erstaunt, dass wir heute, einen Tag danach, ganz normalen Betrieb haben“, berichtet die Historikerin. „Aber ich denke, es ist besser, weiterzumachen.“
Alltag herrscht dennoch nicht. Sie stehe im Kontakt zur Polizei. „Sie hat ihre Präsenz erhöht. Ich wünsche mir, dass die Polizei sehr wach ist und die Situation richtig einschätzt“, betont Jutta Dick.
Sie spricht von einem großen Zwiespalt. „Auf der einen Seite wollen wir keine Festung werden und uns nicht abschirmen“, sondern eine Begegnungsstätte – offen zugänglich für jeden – bleiben. Auf der anderen Seite stehe das Bedürfnis, für „größtmögliche Sicherheit zu sorgen“. Zwar habe es bislang keine Drohungen in Richtung der MMA geben, „aber die gab es vorher auch nicht in Halle.“
Antisemitismus und Fremdenhass sollen die Motive für den Anschlag in Halle gewesen sein. Das sagte der Generalbundesanwalt Peter Frank am gestrigen Donnerstag.
Gibt es Antisemitismus auch in Halberstadt und im Harz? „In den 25 Jahren, in denen wir jetzt hier sind, habe ich keine Schmierereien oder ähnliches erlebt. In unseren Veranstaltungen steht niemand auf, um Beschimpfungen zu äußern“, sagt die MMA-Leiterin. „Aber latenter Antisemitismus ist stark verbreitet.“ Klischees über Juden und das Judentum bestehen bis heute – zum Beispiel „die sind doch alle reich“. „Es ist unbegreiflich für mich, wie viele Stereotype noch in den Köpfen sind, die von Generation zu Generation weitergetragen werden.“ Das falle ihr besonders bei Veranstaltungen für Schüler auf.
Oft, so betont Jutta Dick, seien die Äußerungen gar nicht böse gemeint, sondern schlichtweg unbedacht. Wie abwertend die Worte sind, sei vielen gar nicht bewusst. „Gestern habe ich jemanden sagen hören ‚jetzt sind zwei Unbeteiligte gestorben‘“, berichtet Jutta Dick und fragt rhetorisch: „Unbeteiligt woran? Inwieweit wären Juden daran beteiligt gewesen und wäre das dann weniger tragisch?“
In Halle war ein noch größeres Blutbad nur ausgeblieben, weil der Attentäter nicht in die Synagoge eindringen konnte, wo 60 Gläubige das jüdische Vergebungsfest feierten. Trotzdem starben zwei Menschen.
Wie groß der Antisemitismus im Harz tatsächlich ist, lasse sich nur schwer einschätzen, so Jutta Dick. Zumal keine jüdische Gemeinde mehr in der Region existiert. „Hier leben schon Juden. Viele sind zugezogen aus den ehemaligen UdSSR-Ländern, aber sie sind nicht religiös“, sagt sie.
Das sah bis zum Zweiten Weltkrieg noch ganz anders aus. 1927 lebten mehr als 1000 Juden in Halberstadt. Die erste urkundliche Erwähnung von Juden in der alten Bischofsstadt stammt aus dem Jahr 1261. Die Gemeinde wuchs zu einer der größten in Mitteldeutschland heran und zu einem bedeutenden Zentrum der jüdischen Neo-Orthodoxie im 19. Jahrhundert.
Eine so bedeutende Rolle spielten jüdische Gemeinden in anderen Harzstädten nicht. In Wernigerode zum Beispiel lebten 1938/1939 lediglich 18 Bewohner mosaischen Glaubens, informiert Klaus-Dieter Alicke, der ein online abrufbares Lexikons zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum erstellt hat.
Wie er weiter auflistet, lebte im 18. Jahrhundert eine relativ große Zahl von jüdischen Familien in Derenburg: „1804 wies das Ortsregister insgesamt 21 Familien aus, die ihren Lebensunterhalt auf den Märkten der Umgebung verdienten“ – auch in Wernigerode. Nach den 1830er Jahren wanderten jedoch fast alle Familien ab.