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BahnhofmissionImmer mehr Obdachlose im Harz

Seit Corona beobachten es die Mitarbeiter der Halberstädter Bahnhofsmission: Immer mehr Obdachlose stranden an den Bahnhöfen im Harz.

Von Sandra Reulecke 29.10.2020, 00:01

Halberstadt l Je kürzer die Tage werden und desto mehr die Temperaturen sinken, desto größer wird die Besorgnis von Constantin Schnee. Diese Zeit sei besonders gefährlich für Menschen, die auf der Straße leben, erläutert der Leiter der Halberstädter Bahnhofsmission. „Und davon gibt es in der Region immer mehr.“

Zu Beginn des Jahres habe das Team der Halberstädter Bahnhofsmission lediglich zwei- bis sechsmal im Monat Kontakt zu Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten gehabt. „Das sind Menschen, die arbeits- und wohnungslos sind und zudem oft an einer Sucht- oder anderen Erkrankung leiden“, erläutert Schnee. „Seit Juli sind es 80 solcher Kontakte pro Monat.“

Die Zunahme sei an allen Bahnhöfen im Wirkungskreis zu spüren – ob in Halberstadt, Wernigerode, Blankenburg, Aschersleben oder Thale. „Die meisten sind gebürtige Harzer, die als Obdachlose in Großstädten lebten und jetzt, in der Krise, wieder in ihre Heimat kommen wollen, dorthin, wo es ihnen vertraut ist“, berichtet Schnee. In der Regel seien es Männer, doch immer mehr Frauen, die in einer solchen Situation stecken, wenden sich an die Helfer in den blauen Westen.

Normalerweise sind diese in anderen Situationen gefragt, wie Constantin Schnee berichtet: Menschen, die gesundheitliche Probleme haben, denen das Handy gestohlen wurde, oder die ihre Geldbörse verloren haben, wenden sich an sie. Ebenso Senioren, die mit dem Ticketautomaten überfordert sind. Geht Kleidung bei der Zugfahrt kaputt oder verloren, gibt es in der Bahnhofsmission Ersatz. Die Mitarbeiter unterstützen Menschen, deren Mobilität eingeschränkt ist, beim Ein-, Aus- und Umsteigen, begleiten allein reisende Kinder. Während der Flüchtlingskrise 2015 war die Mission oft die erste Anlaufstelle für Asylsuchende, die nach Halberstadt kamen.

Doch Obdachlose seien in der Einrichtung seit der Gründung vor elf Jahren die Ausnahme gewesen – und nicht nur hier. „Ich befürchte, dass die Kommunen auf eine solche Situation nicht vorbereitet sind“, sagt Schnee. Die Mitarbeiter der Mission seien gut vernetzt, hätten engen Kontakt zu sozialen Einrichtungen der Region. Doch in letzter Zeit bekämen die Helfer immer häufiger eine Absage, wenn sie anrufen, um einen Unterschlupf für Obdachlose zu finden. „Die Unterkünfte und sogar Frauenhäuser sind oft voll und können keinen mehr aufnehmen“, berichtet Constantin Schnee.

Einfach wegschicken würden sie die Gestrandeten nicht. In der Mission bekommen sie etwas zu essen. Auch Hygieneartikel, frische Kleidung, bei Bedarf einen Schlafsack und Decken werde den Menschen mitgegeben, zählt Schnee auf. Möglich sei dies dank Spenden.

Nicht erst, seit die Zahl der Obdachlosen steigt, sieht er den Bedarf für eine Tochterstelle der Bahnhofsmission im Harz. „Mein Traum ist es, eine in Wernigerode zu eröffnen.“ In der Touristenstadt sei die Zahl der Reisenden, die ein-, aus- oder umsteigen besonders hoch und dementsprechend auch die derjenigen, die Hilfe benötigen. Die Deutsche Bahn, so sagt Schnee, befürworte seine Pläne durchaus. Allerdings benötige es einen kontinuierlichen Geldgeber – dies könne eine Gemeinde, aber auch eine Firma sein, um diese Idee in die Tat umsetzen zu können. „Es ist mir noch nicht gelungen, so jemanden zu finden“, räumt Schnee ein.

Deshalb schauen die Mitarbeiter der Halberstädter Mission in der bunten Stadt am Harz nach dem Rechten. Aktuell sind es 20 Helfer. Die meisten von ihnen sind Ehrenamtler, berichtet Schnee. Zwei leisten ihren Bundesfreiwilligendienst in der Einrichtung, fünf weitere sind über ein Projekt der Kommunalen Beschäftigungsagentur (KoBa) bei der Mission. Letztere sind eigentlich im Außendienst im Einsatz. Sie fahren in Zügen mit, um zu sehen, ob jemand darin oder an den Bahnhöfen Hilfe benötigt. „Auf kleinen Bahnhöfen gibt es oft kein Personal mehr. Wenn sich dort jemand in einer Notlage befindet, kann sich niemand kümmern“, erläutert Schnee.

Von Frühjahr bis August mussten die „Kümmerfahrten“ aufgrund der Pandemie-Lage eingestellt werden. „Die KoBa hat es aber ermöglicht, dass die Mitarbeiter anderweitig eingesetzt werden konnten“, berichtet der Leiter der Bahnhofsmission. Dafür sei er sehr dankbar – denn obwohl seit dem Frühjahr weniger Menschen mit Zügen fuhren, war die Einrichtung in dem kleinen Backsteinhaus am Halberstädter Bahnhof stark frequentiert. Nicht von Reisenden, sondern von Menschen aus der Region. Senioren, deren Rente nicht bis zum Monatsende reicht, Familien, deren Kühlschränke leer sind, Menschen, die ihren Job verloren haben. „Die Zahl der Hilfsbedürftigen wächst seit Corona deutlich an“, resümiert Schnee.

Problematisch sei gewesen, dass viele soziale Einrichtungen wie Wärmestuben im Frühjahr ihre Arbeit aufgrund der Pandemie einstellen mussten. „Kurzentschlossen und unbürokratisch haben wir eine Kooperation mit der AWO geschlossen“, berichtet Schnee. Teams der Arbeiterwohlfaht haben kalte Taschen mit Lebensmitteln für Bedürftige gepackt, die in der Bahnhofsmission ausgegeben wurden. „Im Juni waren es 60 in der Woche.“ Obwohl viele Hilfseinrichtungen wieder geöffnet sind, werden noch immer 20 Taschen in der Woche in der Mission abgeholt.

Zeit für lange Gespräche mit den Betroffenen bleibt nicht. „Wegen Corona dürfen sich nur vier Besucher gleichzeitig in unseren Räumen aufhalten, die Besuchszeit ist auf nur 30 Minuten begrenzt“, informiert Constantin Schnee. Anschließend heiße es Lüften und Desinfizieren, bevor die nächsten Gäste eintreten dürfen.

Geöffnet ist die Bahnhofsmission montags bis freitags von 10 bis 15 Uhr, am Wochenenende zwischen 10 und 14 Uhr. „Wenn es die Personalsituation hergibt, auch länger.“ Doch das sei aktuell ein Knackpunkt – es fehle an einsatzbereiten Helfern, die regelmäßig Dienst leisten wollen. „Vielleicht ist das der Angst vor Corona geschuldet“, mutmaßt Schnee.

Vorkenntnisse brauchen diejenigen, die helfen wollen, nicht. „Jeder, der bei uns Dienst macht, erhält eine Grundausbildung.“ Auch spiele Alter, Herkunft, Bildungsgrad und Religion keine Rolle. Wer selbst durch eine schwere Zeit gegangen ist – Suchterkrankung, Trauerfall, Arbeitslosigkeit – habe oft einen guten Zugang zu den Hilfssuchenden. „Aber wir sind keine Selbsthilfegruppe“, betont Schnee. „Wer uns unterstützen will, sollte mit beiden Beinen im Leben stehen, sonst kann er niemandem helfen“, sagt Schnee. Kommentar

Kontakt zur Bahnhofsmission unter Telefon (0 39 41) 30 86 36