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Behinderung Fünf Zentimeter werden zur Hürde

Helga Völker aus Blankenburg ist trotz körperlicher Einschränkungen reiselustig. Ihre Touren mit der Bahn werden aber zum Glücksspiel.

Von Dennis Lotzmann 04.01.2018, 09:00

Blankenburg l Es ist ein Wort mit 16 Buchstaben, das für Helga Völker essenzielle Bedeutung hat: Barrierefreiheit. Die 63-Jährige ist aufgrund einer Erkrankung seit einigen Jahren auf eine Mobilitätshilfe angewiesen. Sie nutzt einen E-Scooter – ein Elektrofahrzeug, das vom konstruktiven Aufbau her ein wenig an ein Moped erinnert. Entscheidender Aspekt des akkubetriebenen Gefährts: Damit es nicht seitlich umkippt, ist es mit vier Rädern versehen. Helga Völker ist damit sehr zufrieden. Nun könnte ihr Scooter vom Typ 889SLBF im Alltag allerdings neue Hürden heraufbeschwören. Wegen fünf offenbar sehr entscheidenden Zentimetern.

Dabei ist Helga Völker auf ihre vom Arzt verordnete Mobilitätshilfe „absolut angewiesen. Nicht nur im Alltag, wenn ich damit in der Stadt unterwegs bin“, berichtet die Blankenburgerin. Sie kann – dank barrierefreien Umbaus vieler Bahnhöfe – mit dem Scooter auch bequem in Zügen von Bahnunternehmen wie Deutscher Bahn oder dem Harz-Elbe-Express (HEX) verreisen. Die hohen Investitionen, die in den vergangenen Jahren in die Bahnanlagen getätigt wurden, machten selbst Reisen bis auf die von ihr so geliebte Insel Rügen problemlos möglich, berichtet die Invalidenrentnerin.

Eigentlich. Vor wenigen Wochen musste sie allerdings bei einer zuvor regulär angemeldeten Fahrt mit dem HEX eine böse Überraschung erleben: „Ein Zugbegleiter hat sich nach dem Gewicht meines Scooters erkundigt“, berichtet sie. Für die bei vielen Reisen mit der Eisenbahn erprobte Frau, die nach eigenen Worten früher selbst bei der Bahn beschäftigt war, kein Problem. Sie zog das kopierte Faltblatt mit den technischen Daten des 889SLBF hervor und konnte zumindest beim Gewicht aufatmen.

Zusammen mit ihrem 113 Kilogramm schweren Scooter komme sie – mit Puffer gerechnet – auf höchstens 200 Kilogramm Gesamtgewicht. Das lässt genug Luft nach oben – die Überfahrbrücke, die sie nutzt, um in die Waggons zu gelangen, haben mindestens 300 Kilogramm als Obergrenze, so HEX-Marketingchefin Nadine Lachmund.

Allerdings entdeckte der Zugbegleiter bei der Kontrolle ein anderes Problem: Der von Helga Völker genutzte Scooter kommt bei 63 Zentimetern Breite auf 1,30 Meter Länge und kollidiert damit buchstäblich mit den Beförderungsbedingungen des HEX. Die geben in Paragraph zwölf für Rollstühle – und so auch für Scooter – insgesamt 80 Zentimeter (70 plus 10 Zentimeter für die Hände) in der Breite und 1,25 Meter Länge (1,20 plus fünf Zentimeter für die Beine) als Obergrenzen vor. Basis sei der internationale Standard ISO 7193, mit dem die Größen vorgegeben seien, heißt es beim HEX. Und damit ist die von Helga Völker genutzte Fortbewegungshilfe exakt fünf Zentimeter zu lang.

Bislang, erinnert sie sich, seien jene fünf Zentimeter „Überlänge“ im Alltag noch nie zum Problem geworden. „Ich kann ganz normal in die Züge von HEX und Deutscher Bahn reinfahren und darin auch problemlos rangieren“, versichert die Betroffene. Allein: Ihre Mitnahme in allerletzter Konsequenz von einer Ermessensentscheidung des jeweiligen Zugbegleiters abhängig zu machen, behage ihr nun überhaupt nicht.

Die Zugbegleiter haben – ist in den HEX-Vorgaben zu lesen – durchaus auch Spielräume. Soweit eine Beförderungspflicht nicht bestehe – beispielsweise wegen besagter Größenüberschreitung, liege die Entscheidung über die Mitnahme beim Betriebspersonal, heißt es. „Ich habe aber keine Lust, irgendwo zwischen Blankenburg und Rügen plötzlich aussteigen zu müssen“, bringt die 63-Jährige ihr Anliegen auf den Punkt. Sie wünscht sich Klarheit und drängt in letzter Konsequenz darauf, dass die Vorschriften der Bahnen den modernen Rollstühlen und E-Scootern angepasst werden.

Schließlich seien einige Scooter-Modelle noch weit länger als 1,30 Meter, bestätigt René Hoffmann. Hoffmann ist Teamleiter Reha-Technik im Steinke-Orthopädie-Center in Halberstadt und betreut dort auch Helga Völker. Es sei insgesamt ein Trend zu immer größeren Mobilitätshilfen zu beobachten, berichtet er. Das sei aber nicht der Bequemlichkeit der Nutzer geschuldet, sondern dem Größenwachstum insgesamt. Menschen würden immer größer, die Mobilitätshilfen würden dem jeweiligen Nutzer individuell angepasst.

Das sei auch bei Frau Völker der Fall. Der von ihr genutzte Scooter sei vom Arzt verordnet und von der Krankenkasse bereitgestellt worden. Weil er eben medizinisch notwendig ist.

Letztlich sehen sowohl René Hoffmann als auch Helga Völker mit Blick auf die Beförderungsvorgaben Korrekturbedarf. Doch wo muss hier angesetzt werden? Sowohl HEX als auch Deutsche Bahn heben hier die Hände: „Unsere Beförderungsbedingungen basieren auf der Eisenbahn-Verkehrsordnung. Und darin wird letztlich auf EU-Vorschriften verwiesen“, erklärt HEX-Sprecherin Lachmund. Analog die Auskunft der zuständigen Bahn-Pressestelle in Leipzig.

Und darauf verweist auch das Eisenbahn-Bundesamt (EBA), das immer mal wieder als vermeintlicher Urheber von Vorschriften ins Spiel gebracht wird. „Wir kontrollieren bei den Eisenbahnen nur die Einhaltung von Vorschriften“, so EBA-Sprecherin Heike Schmidt. Die Vorschriften und Grenzwerte für Mobilitätshilfen seien in der EU-Verordnung „TSI PRM/EU 1300/2014 vom 18.11.2014“ EU-weit einheitlich fixiert. Und dort finden sich die Daten, mit denen HEX und Bahn AG arbeiten.

Dieses Regelwerk zu ändern und den aktuellen Entwicklungen anzupassen, wäre danach Sache der EU-Parlamentarier. Die Volksstimme hat vor wenigen Tagen die beiden sachsen-anhaltischen EU-Abgeordneten Arne Lietz (SPD) und Sven Schulze (CDU) mit dem Problem konfrontiert und hinsichtlich konkreten Änderungsbedarfs nachgefragt. Konkrete Konsequenzen gibt es zwar noch nicht. Lietz‘ Mitarbeiter Daniel Anger hat nach eigenen Worten den verkehrspolitischen Sprecher im Europaparlament, Ismail Ertug kontaktiert.

Auch Holger Wegener, Büroleiter von EU-Parlamentarier Sven Schulze, ist dabei, die Rahmenbedingungen zu klären.