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Blitzeinschlag Qualvolle Minuten in den Spiegelsbergen

Ein Blitzeinschlag in den Turm eines Jagdschlosses in den Spiegelsbergen bei Halberstadt verletzt einen Mann. Ersthelfer erinnern sich.

Von Sabine Scholz 01.08.2020, 01:01

Halberstadt l Die Bilder sind sofort wieder da. Der Schock, die Aufregung. Norma Döring nimmt sichtbar mit, was sie erlebt hat. Dass sie ein Leben gerettet hat, scheint sie immer noch nicht realisiert zu haben. Ihre Sorge gilt dem 31-jährigen Mann, den sie am Sonntag, 26. Juli, im Belvedere bei Halberstadt reanimierte. Dass er nach einem Blitzschlag auf dem Weg der Gesundung ist, von der Intensivstation verlegt werden konnte - am Sonntag hätte sie nicht darauf gewettet.

Sie war mit ihrem Freund Philipp Klamroth-Jur und dessen Bruder Elias zu einem Spaziergang in die Spiegelsberge aufgebrochen. Es war windig und warm, Sonne und Wolken wechselten sich ab. Es gab kein Gewittergrollen oder Wetterleuchten. Als sie auf Höhe des Schlösschens waren, setzte Regen ein. „Wir sind in den Turm gegangen, um uns unterzustellen“, erinnert sich Norma Döring. Ein junges Elternpaar hatte es ihnen gleichgetan, der Mann hatte die einjährige Tochter in einem Tragegestell auf dem Rücken.

„Ich war näher ans Fenster getreten, schaute auf den einsetzenden Platzregen“, erinnert sich die junge Frau. Innerhalb eines Sekundenbruchteils änderte sich die friedliche Szene auf der unteren Etage des Aussichtsturms.

„Ich dachte erst, da geht ein Böller hoch“, sagt Elias. Der Zehnjährige hatte Funken sprühen sehen, dann ein grelles Licht, das den Mann in der Mitte des Raumes an der Schulter traf, aus seiner Seite austrat, sich teilte und ein Strahl in die Beine seines Bruders Philipp fuhr, während der andere wieder aus dem Fenster schoss.

Beide Männer fielen auf den Boden, Philipp in unnatürlich verkrümmter Haltung. „Ich war schnell wieder da, spürte aber meine Beine nicht mehr, konnte sie nicht bewegen. Ich war gelähmt. Mir war sofort klar, dass wir vom Blitz getroffen wurden“, berichtet der 29-Jährige.

Inzwischen geht es ihm wieder gut, er kann laufen. „Es klingt vielleicht seltsam, aber als ich im Rettungswagen lag und irre Schmerzen in den Beinen hatte, war ich froh. Jetzt ist es wie ein extremer Muskelkater. Ich muss meine Sehnen ziemlich überdehnt haben.“

Seine Freundin Norma erinnert sich an die seltsame Haltung ihres Freundes. An das Dröhnen und Fiepen in den Ohren. Den eigenartigen Geruch. „Es hat verbrutzelt gerochen, so, als ob man ganz lange zwei Feuersteine gegeneinanderschlägt“, beschreibt Elias.

Dazu kam ein seltsam verzögertes Zeitgefühl, ergänzt Norma Döring. „Ich stand ja mit dem Rücken zu den anderen, weil ich aus einem der Fenster auf den Platzregen schaute. Als ich mich umdrehte, sah ich die Männer am Boden liegen.“

Die beiden Frauen versuchten, das Tragegestell mit dem Kind vom Rücken des Mannes abzubekommen, der blau angelaufen, mit verdrehten Augen und Schaum vorm Mund auf dem Rücken lag. „Zum Glück war dem Baby nichts passiert“, sagt Norma Döring.

Sie nahm Elias‘ Handy, wollte den Notruf wählen, als ihr Philipp zurief, sie müssten den Mann retten. Also übernahm Elias den Anruf in der Rettungsleitstelle, der dort um 16.55 Uhr einging. „Im Nachherein muss ich sagen, Elias war in dem Moment vielleicht der besonnenste von uns allen“, sagt Norma Döring.

In dem Raum, erinnert sie sich, herrschte Chaos, alle schrieen durcheinander, sicherlich auch, weil alle wegen des heftigen Knalls kaum etwas hörten. Während Elias telefonierte, wandte sie sich wieder dem Mann aus Leipzig zu. „Wir haben das Tragegestell vom Rücken abbekommen, es kam mir vor wie Stunden“, erinnert sich die junge Frau, die gemeinsam mit Philipp Familienbesuche in Deutschland macht, nachdem sie 15 Monate zusammen durch Kanada gereist waren.

Elias Klamroth kam mit dem Telefon zu ihr, er hatte Kontakt zur Rettungsleitstelle. „Ich stand völlig unter Schock, überlegte, in welchem Rhythmus ich die Herzdruckmassage machen soll. Ich habe die Leute in der Leitstelle gefragt, wie oft ich pumpen soll und dann die Frau des Mannes bei der Reanimation abgelöst.“

Es gelang, der Schwerverletzte atmete wieder, dann bemühten sich die beiden jungen Frauen, den Familienvater in die stabile Seitenlage zu bekommen. „Man hat das alles irgendwann mal gelernt, aber wenn es dann braucht, muss man erst überlegen, was zu tun ist, ist unsicher“, sagt Norma Döring. „Er rutschte uns immer wieder weg, da hätte ich mich über eine helfende Hand sehr gefreut. Philipp konnte ja nicht aufstehen, aber er half mir seinen ruhigen Anweisungen“. Sie habe große Angst gehabt, dass der am Boden liegende Mann sich übergeben müsse. „Sein Atem ging so gurgelnd.“

Für einen kurzen Moment sah es so aus, als ob es unerwartete Unterstützung gibt. „In der Erinnerung ist alles ziemlich durcheinander, aber ich bin mir sicher, dass zwei Frauen von der oberen Etage des Turmes kamen, kurz auf uns schauten und dann weitergingen.“ Ein Fakt, der Norma Döring mehr bewegt als das vorher Geschehene. „Wir waren alle im Schock, völlig durcheinander. Das Baby schrie, wir kämpften um das Leben eines Mannes und die beiden sind weitergegangen, haben nicht mal die Kinder mit ‘rausgenommen oder sie angesprochen. Wir hatten doch alle Angst, dass es einen weiteren Blitz geben könnte.“

Dass zwei Frauen von oben kamen, bestätigt Elias. Er hat die zwei Frauen auch gesehen. Ob sie Hilfe holten? Keiner der drei weiß es. Vielleicht, denn um 17 Uhr ging ein zweiter Notruf in der Leitstelle ein, wie eine Volksstimme-Nachfrage ergab. Da hatte Elias auch schon mit seiner Mutter telefoniert, die den furchtbaren Knall gehört hatte. „Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmt“, sagt Kerstin Jur. Sie machte sich mit ihrem Mann auf den Weg zum Schlösschen.

Als sie eintrafen, kamen auch gerade die Rettungskräfte an, die sich um die Verletzten kümmerten. „Sie waren schnell da“, sagt Norma Döring, die froh war, die Verantwortung abgeben zu können – und dann, nachdem sie vorher „einfach funktioniert“ hatte, zusammenbrach. Alle wurden ins Krankenhaus gebracht, das sie nach 24 Stunden bis auf den Schwerverletzten wieder verlassen konnten.