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Blutkrebs Der größte Wunsch ist erfüllt

Jamie aus Halberstadt erhielt im Sommer die Schock-Diagnose Blutkrebs. Wie ist es der Siebenjährigen seitdem ergangen?

Von Sandra Reulecke 25.12.2020, 00:01

Halberstadt l Neckereien mit der Schwester, Plätzchen naschen, sobald sie aus dem Ofen kommen, die Wohnung dekorieren. Normalität in den meisten Familien in der Weihnachtszeit. Eine Normalität, auf die Familie Eckardt aus Halberstadt nicht zu hoffen gewagt hatte, als sie im Juli die Diagnose erhielt: Jamie, die mittlere der drei Töchter, hat Blutkrebs. „Es war unserer größter Wunsch, dass schnell ein Spender gefunden wird und wir zuhause mit ihr Weihnachten feiern dürfen“, sagt Michéle Eckardt, die Mutter. Lächelnd fügt sie hinzu: „Er ist in Erfüllung gegangen.“

Worauf hat sich Jamie am meisten gefreut? „Darauf, meine Tiere wiederzusehen“, sagt die Siebenjährige wie aus der Pistole geschossen, bevor sie sich eifrig daran macht, Weihnachtsbilder in leuchtenden Farben auszumalen.

Die Grundschülerin wirkt fröhlich, grinst viel, zieht Grimassen und gibt freche Antworten. Letzteres ist für Michéle Eckardt kein Grund zu schimpfen, sondern eher zur Freude. „Ich habe manchmal im Krankenhaus zwölf Stunden an ihrem Bett gesessen, in denen Jamie nur geschlafen hat“, berichtet sie. Das sei nur schwer auszuhalten gewesen – kannte sie ihre Tochter doch bis dato als Wirbelwind, der gerne tanzt und tobt.

So wunderte sie es anfangs nicht, dass Jamie immer wieder mit blauen Flecken übersät war. Ermahnte sie sogar, besser aufzupassen, dass sie sich nicht so oft stößt. Dass etwas nicht stimmen konnte, sei der Mutter erst am 5. Juli so richtig bewusst geworden. „Sie hat sich in einem Türrahmen gestoßen und die gesamte Schulter lief blau an“, berichtet die Halberstädterin. Als dann noch heftiges Nasenbluten auftrat, fuhr sie mit der Tochter zum Arzt. Und plötzlich war für die junge Familie nichts mehr wie zuvor. Diagnose MDS (Myelodysplastisches Syndrom), eine Form von Blutkrebs.

Es folgte ein monatelanger Marathon aus Klinikaufenthalten, Untersuchungen, Behandlungen, Schmerzen, Bangen. Und Hoffen. Darauf, dass ein passender Spender für eine Stammzelltransplantation – die einzige Chance für Jamie, gesund werden zu können – gefunden wird.

„Manche warten monatelang, ohne dass das geschieht“, sagt Michéle Eckardt. In der Klinik in Halle habe sie von vielen Schicksalen erfahren. „Da gab es viele Familien, die Weihnachten nicht zusammen verbringen können, vielleicht nie wieder“, sagt sie traurig. „So etwas erleben zu müssen, wünscht man niemandem.“

Umso mehr wisse sie zu schätzen, welch großes Glück sie hatten. In wenigen Monaten wurde ein passender Spender gefunden, am 16. Oktober fand die – bislang – erfolgreiche Transplantation statt. Wem sie die lebensrettenden Stammzellen zu verdanken hat, weiß Jamie nicht. Es ist eine Frau, das hat sie aus einem Brief erfahren, den ihr die Retterin vor der OP anonym zukommen ließ. Diesen Brief hat Jamie in einem weißen Bilderrahmen in ihrem Kinderzimmer stehen. „Ich muss leider zwei Jahre warten, bis ich die Spenderin kennenlernen darf“, sagt die Grundschülerin. Dabei könne sie es kaum erwarten, ihr zu begegnen und ihr zu danken.

Vor der Transplantation musste Jamie sich einer Chemotherapie unterziehen, die zum Ziel hatte, alle erkrankten Zellen zu zerstören, wie die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) die Behandlung erläutert. Doch eine solche Therapie hat auch unerwünschte Nebenwirkungen. Die Haare fallen aus. Der Patient ist müde, schwach. In Jamies Fall wurden auch die Mundschleimhäute angegriffen. „Aber Essen schmeckt mir jetzt wieder“, versichert das Mädchen. „Nur manches schmeckt noch komisch.“ Der Appetit sei aber zurück und mit ihm auch die Kraft. Nicht nur in dieser Hinsicht seien die Fortschritte ihrer Tochter enorm, sagt Michéle Eckardt.

Für Außenstehende gibt es tatsächlich wenige Anzeichen für die harten Monate, die hinter dem Mädchen liegen. Nur das raspelkurze Haar, kaum mehr als ein dunkler Schatten, zeugt auf den ersten Blick von der schweren Krankheit. Doch Michéle Eckardt weiß es besser. Diagnose und Klinikaufenthalte haben deutliche Spuren hinterlassen. „Sie ist ernster und erwachsener geworden, ihr Gesicht ist weniger kindlich. Das hat die Familie auch schon gesagt.“ Ebenso seien bei der jüngeren Schwester Lainie Folgen zu sehen. „Sobald sie einen blauen Fleck bemerkt, hat sie Angst, das Gleiche wie Jamie zu haben und auch ins Krankenhaus zu müssen“, sagt die Mutter.

Aktuell versuche die Familie, sich mit Weihnachtsfilmen abzulenken und trotz allem in festliche Stimmung zu kommen. Dass die Feiertage in diesem Jahr aufgrund von Corona viel ruhiger und auf wenige Personen begrenzt stattfinden müssen, findet die Mutter gar nicht schlimm. „Jamie ist noch sehr anfällig. Wir müssen aufpassen, dass sie keinen Viren und Keimen ausgesetzt ist.“ Noch gehören zweimal in der Woche Fahrten zur Kontrolle ins Krankenhaus, der Katheter am Hals und jede Menge Medikamente zum Alltag von Jamie. Elf verschiedene Tabletten sind es täglich. „Die weißen sind die schlimmsten“, berichtet die junge Patientin und verdreht die Augen. Sie hoffe, die bald nicht mehr nehmen zu müssen. Und sie wünscht sich, wieder mehr rausgehen, Freunde treffen zu dürfen.

Allerdings ist das mit einem Wermutstropfen verbunden: dann muss sie auch wieder zur Schule. „Sie hat Angst, dass sie die Klasse wiederholen muss, weil sie so viel verpasst hat“, erläutert Jamies Mutter. Zwar habe im Krankenhaus ein Lehrer mit Jamie geübt, aber nur dann, wenn es ihr Zustand zuließ.

Bevor sich Jamie mit anstrengenden Dingen wie Rechnen und Rechtschreibung auseinandersetzen muss, stehen zwei Termine an, die viel angenehmer sind und die das Kind kaum erwarten kann: Weihnachten und Silvester. Letzteres ist ein doppelter Grund zur Freude – Jamie hat am letzten Tag des Jahres Geburtstag. „Aber ich feiere jetzt zweimal Geburtstag“, kündigt sie an. „Einmal an Silvester und nochmal am 16. Oktober.“