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Cecilienstift Erstes Fest in eigenen vier Wänden

Nur helfen, wenn Hilfe notwendig ist, erlaubt Menschen mit Behinderungen ein viel selbstständigeres Leben. Zwei Halberstädter leben es vor.

Von Sabine Scholz 23.12.2017, 00:01

Halberstadt l Sie gehen offen mit ihren Handicaps um. „Da führen zwei Sehschwache zwei Blinde. Aber alles ist gut gegangen, wir hatten viel Spaß in Hamburg beim Konzert der Band Schiller“, sagt Marcel Zech und muss schmunzeln. „Wir haben uns nicht verlaufen, keinem ist was passiert“, ergänzt Jenny Möbus. Beide sind sinnesbehindert, sehen schlecht bis fast gar nicht und auch das Hören ist beeinträchtigt. Unterkriegen lassen sie sich davon nicht.

Die Fröhlichkeit der beiden ist ansteckend, strahlend erzählen sie, wie sehr sie sich auf das „erste richtige Weihnachten in der eigenen Wohnung“ freuen. „Wir sind zwar schon vor einem Jahr hier eingezogen, aber damals war noch alles voller Kartons, es war viel zu tun. Jetzt erst können wir das Weihnachtsfest in unserem Zuhause richtig genießen“, sagt Marcel Zech. Der 30-Jährige bereut nicht, sich vor einigen Jahren an das Cecilienstift gewandt zu haben mit der Bitte, in einem betreuten Wohnen aufgenommen zu werden. 2011 war man gerade dabei, intensiv betreute Wohngruppen aufzubauen, berichtet Ina Klamroth. Die Bereichsleiterin Behindertenhilfe im Cecilienstift freut sich, das die neuen Ideen so gut funktionieren. Oft ist es Neuland, dass die Mitarbeiter betreten. „Aber unser Vorstand unterstützt uns sehr“, sagt Ina Klamroth. Zum Glück, wie Jenny Möbus findet.

Die 26-Jährige lebt seit 23 Jahren in Halberstadt. „Damals hat sie nicht gesprochen“, erinnert sich Ina Klamroth, die im Klusheim arbeitete, in das Jenny aus Dessau kam. Aber Jenny ist neugierig, ließ sich fordern, musste bald ans Telefon – und dann sprechen. Im Klusheim fühlte sie sich wohl, in Fotoalben bewahrt sie Erinnerungen an eine glückliche Kindheit auf. Auch wenn die Mutter weit weg war, ist der Kontakt nie abgerissen. „Sie kann Weihnachten allerdings nicht kommen, sie muss arbeiten“, berichtet Jenny. Sie freut sich dennoch auf die Festtage, will es sich mit Marcel gemütlich machen. „Und am zweiten Feiertag gehen wir zusammen mit einem befreundeten Paar essen“, berichtet dieser.

In der Schule wurde Jenny aufgrund ihrer Handicaps in der Taubblindenklasse unterrichtet, mit der Folge, dass sie keinen Schulabschluss in der Tasche hat und deshalb keine Ausbildung machen konnte. Wenn man die selbstbewusste junge Frau erlebt, die auch im Heimbeirat aktiv ist, kaum vorstellbar.

Im vergangenen Herbst hat sie sich entschlossen, testen zu lassen, ob sie für den Einsatz eines Innenohr-Implantats geeignet ist. „Ich habe lange überlegt, ob ich das will. Ich hatte auch Angst vor der Operation. Aber dann habe ich mir gesagt, wenn du irgendwann gar nicht mehr sehen kannst, willst du wenigstens noch was hören können.“ Im März ließ sie sich operieren, hat die ersten Anpassungen hinter sich, kann mit dem rechten Ohr erste Worte wahrnehmen, wenn die Signale direkt an die Antenne des Cochlea-Implantats gehen. Ohne direkte Aufkopplung nimmt sie zumindest schon Geräusche wahr, berichtet sie stolz. Sie weiß, dass es noch ein langer Weg ist, bis sie besser hören kann, aber aufgeben ist ihre Sache nicht.

Nach Ende der Schulzeit begann sie ein Praktikum in den Diakonie-Werkstätten. Dort lernte sie ihren Marcel kennen. „Ich bin megastolz, dass ich ihn habe“, sagt Jenny. Seit elf Jahren sind sie ein Paar, seit einem Jahr endlich in einer eigenen Wohnung. Beide haben den Mietvertrag unterschrieben, sie zahlen Strom, Miete selbst. In Finanzfragen ist ihnen eine rechtliche Betreuerin an die Seite gestellt, aber das meiste schaffen sie alleine. Einmal in der Woche gibt es ein Treffen mit den Betreuern vom Cecilienstift. „Und wenn wir zwischendurch mal Hilfe brauchen, wissen wir, wo wir sie finden“, sagt Jenny, denn im Erdgeschoss des Mietshauses gibt es eine intensiv betreute Wohngruppe. Drei Menschen mit Sinnesbehinderungen leben dort, jeder hat ein eigenes Zimmer, Küche und Wohnzimmer wird gemeinsam genutzt. Es gibt ein Büro, in dem die Betreuer in Ruhe mit den ihnen Anvertrauten reden können, es wird viel gemeinsam unternommen.

Mit so einer Wohngruppe begann auch Marcels und Jennys Weg in mehr Selbständigkeit. Heute sind sie froh, allein in ihrer Wohnung zu sein. Sie haben gelernt, in der Paarbeziehung Probleme gleich anzusprechen, und nicht zu warten, bis man kaum noch miteinander reden mag. „Weil sie zusammenleben, haben wir sie auf der Arbeit getrennt, auch das hat ihnen geholfen“, berichtet Ina Klamroth. Beide sind in der Werkstatt am Park tätig, haben Spaß an der Arbeit. Aber jetzt genießen sie erstmal Weihnachten.