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Erwachsenenbildung Mit Analphabetismus in Halberstadt leben

4000 Halberstädter sind funktionale Analphabeten. Ein Betroffener berichtet, wie er sein Handicap jahrzehntelang vertuschen konnte.

Von Sandra Reulecke 16.08.2018, 15:11

Halberstadt l Fahrpläne sind wie Hieroglyphen, Beipackzettel und die Speisekarten bleiben ein Rätsel: Für Menschen, die nicht richtig lesen können, sind viele Alltagssituationen eine Herausforderung. Laut Deutscher Angestellten-Akademie (DAA) Halberstadt ergeht es 4000 Menschen in der Kreisstadt so. Sie sind funktionale Analphabeten.

Um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen, um ihnen Mut zu machen und zu zeigen, dass es Hilfe für sie gibt, macht das ALFA-Mobil des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung (BVAG) auf Einladung der DAA am Dienstag Halt in Halberstadt. 

Klaus Dräger erwartet an dem Stand Interessierte mit einem freundlichen Lächeln und einem reichen Erfahrungsschatz. Der 60-Jährige ist Betroffener. Hat er früher versucht, es zu verbergen, geht er heute offen damit um. „Einige Wörter, mehr konnte ich nicht lesen und schreiben“, berichtet der Mann aus Rathenow. „Nur wenige wussten davon.“ Er habe sich geschämt und allein gefühlt.

Dabei ist funktionaler Analphabetismus kein seltenes Problem. Laut einer Studie der Universität Hamburg von 2011 hat jeder Siebte in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren Schwierigkeiten – in unterschiedlicher Ausprägung – beim Lesen und Schreiben. Der Anteil der Männer überwiegt und liegt bei 60 Prozent. „Statistisch gesehen kennt jeder jemanden, der betroffen ist“, sagt die BVAG-Mitarbeiterin Juliane Averdung. „Wir wollen heute weniger die Betroffenen ansprechen, als vielmehr deren Umfeld.“ 

Viele Analphabeten haben eine Vertrauensperson, die ihnen bei Schriftwechsel mit Behörden und Ähnlichem hilft. „Aber damit helfen sie dem Menschen nicht wirklich. Wer nicht lesen und schreiben kann, ist immer abhängig.“ Das bedeutet nicht, dass funktionale Analphabeten nicht im Berufsleben stehen. 57 Prozent sind erwerbstätig.

Klaus Dräger hat eine Ausbildung zum Gleisbauer absolviert. Er half sich mit Tricks und mit Ausflüchten, mit denen er seine Schwäche vor Kollegen verbergen konnte. Zuvor besucht Dräger bis zur siebten Klasse die Schule, aber ungern. „Vielleicht war ich einfach zu faul damals.“ Dazu kam die Frustration über schlechte Noten, mit der die Abneigung gegen den Unterricht wuchs. Seinem Elternhaus macht er keine Vorwürfe. „Meine Schwester hat einen höheren Bildungsweg eingeschlagen. Man kann nicht pauschal sagen, dass die Eltern Schuld sind.“ 

Das bestätigt das Team des ALFA-Mobils. Die Gründe, warum jemand nicht richtig schreiben und lesen kann, sind vielfältig. Sie reichen von psychischen Problemen in der Schulzeit über Vernachlässigung in der Kindheit bis hin zu langen Fehlzeiten aufgrund einer Krankheit. 

Das, was die Betroffenen während der Schulzeit erlernt haben, genügt oftmals nicht einmal für einfache Notizen: „Ich möcht, einfach so Lese, und. Schreiben könen wie alle anderen, Die das in ber Schule damals gelernb haden“: Der Verfasser dieses Satzes ist 39 Jahre alt und funktionaler Analphabet. Er besucht bereits einen Lese- und Schreibkurs für Erwachsene.

Einen solchen absolviert auch Klaus Dräger seit vier Jahren. Zweimal in der Woche, vier Schulstunden lang. Mit Erfolg: „Mittlerweile lese ich Zeitung“, berichtet er stolz. Die Hoffnung auf eine neue berufliche Perspektive haben ihn veranlasst, wieder die Schulbank zu drücken. 

Für Betroffene in Halberstadt startet im Herbst ein Projekt für Grundbildungskurse, informiert Natalie Breinert von der DAA. Die Nachfrage ist groß. „Wir können dem Bedarf momentan gar nicht nachkommen.“

Dass funktionaler Analphabetismus ein Problem ist, können die Mitarbeiter der Agentur für Arbeit in Halberstadt bestätigen. „Ein schwieriges Thema. Die Hemmschwelle, so etwas anzusprechen, ist groß“, sagt Pressesprecher Daniel König. „Es gibt keine genaue Erfassung, aber es sind schon einige Fälle dabei.“

Allerdings sei es schwierig für die Jobberater, solche zu identifizieren. „Ich habe meine Brille vergessen. Das ist zu klein gedruckt. Ich fülle das zu Hause aus.“ Solche Sätze hören die Berater häufiger von Kunden. „Man kann ja nicht jedem unterstellen, dass das nur eine Ausrede ist“, so König. Hinzu komme, dass man in unserer Gesellschaft davon ausgeht, dass jemand mit Schul- oder sogar Ausbildungsabschluss des Lesens und Schreibens mächtig ist. 

Um die Mitarbeiter für Fälle von funktionalem Analphabetismus zu sensibilisieren, wurden sie von einem Team des BVAG geschult, berichtet König. Die Agentur-Mitarbeiter helfen den Betroffenen, geeignete Kurse zu finden, um das Defizit auszugleichen, und vermitteln Kontakte. 

Beratung für Betroffene und Angehörige am ALFA-Telefon unter 0800/ 53 33 44 55