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Evakuierung Halberstadt zeigt Hilfsbereitschaft

Um 1.58 Uhr trifft die erlösende Nachricht ein: Die Bombeist entschäft. Das Feldlager im Zentrum von Halberstadt löst sich auf.

Von Regina Urbat 13.08.2015, 21:00

Halberstadt l 25 Kisten Wasser holt Anke Siebert, schleppt sie ins Rathaus. Es ist warm. Der Ratssaal füllt sich. Die Menschen, die wegen des Bombenfundes am Mittwoch evakuiert werden, sollen etwas trinken können. Gemeinsam mit ihren Kollegen Christopher Thees und Heidrun Reichpietsch kümmert sie sich um die Menschen, die im Rathaus Schutz suchen. In der Sporthalle „Völkerfreundschaft“ tun es ihnen ihre Kollegen Stefanie Burisch, Kerstin Schmieder und Manfred Wegener gleich. Dorthin bringt Anke Siebert einen Teil der Wasserkästen.

Einige Stunden später wird sie mit Christopher Thees auch Brötchen in die Turnhalle bringen. Möglich ist das, weil Cornelia Geissler rasch erkennt, dass viele der Evakuierten Hunger haben. Die Inhaberin der Bodega „El Papagayo“ backt in ihrem kleinen Ofen Brötchen auf, gibt ihren kompletten Vorrat an Schinken und Käse heraus und Butter, damit in der Teeküche vor dem Ratssaal Brötchen geschmiert werden können.

Vor ihrer Bodega am Rathaus sitzen viele Menschen, denen die Luft im Ratssaal zu stickig ist. Als es nach Mitternacht etwas kühler wird, gibt Cornelia Geissler alle Decken heraus, die sie hat, bietet älteren Halberstädtern an, sich auf den Bänken im Inneren des Restaurants hinzulegen. „In so einer Situation muss man einfach zusammenhalten“, sagt die quirlige Wirtin, „ich lasse den Laden solange auf, wie es nötig ist.“ Auch der Inhaber des griechischen Restaurants am Holzmarkt fragt im Rathaus nach, ob er helfen kann. Der Ton vor der Bodega ist herzlich, die Evakuierten fühlen sich freundlich aufgenommen. „Ihr seid mein kleines Feldlager“, sagt Cornelia Geissler lachend.

Im Ratssaal warten die Menschen müde, aber geduldig auf den Moment, endlich wieder nach Hause zu können. Man kommt ins Gespräch, hilft sich. „Es herrscht trotz der Aufregung eine gute Stimmung“, sagt Anke Siebert.

Sie eilt umher, kocht Kaffee, fragt nach, wie der Stand der Dinge ist. Bei Stadtsprecherin Ute Huch laufen die Informationen aus der Einsatzstelle der Kreisverwaltung ein. So erfahren die Wartenden, dass um 0.15 Uhr endlich die Evakuierung der rund 5200 Anwohner abgeschlossen ist. Wenig später hört man den Polizei-Hubschrauber kreisen, der das Evakuierungsgebiet überfliegt. Er kontrolliert, ob wirklich alle Personen das Areal verlassen haben. Dann erst können die Bombenentschärfer in die Baugrube steigen.

Den Hubschrauber hören und sehen auch die Menschen, die im Laufe der Nacht die Sporthalle Völkerfreundschaft aufsuchen. Wie im Rathaus sind es in der Mehrzahl ältere Mitbürger. Bis kurz vor Mitternacht treffen Schutzsuchende ein, die mit Fahrzeugen des Rettungsdienstes oder Katastrophenschutzes von ihren Wohnungen abgeholt werden mussten. „Es zieht sich in die Länge, weil die zur Verfügung stehende Anzahl an Fahrzeugen begrenzt ist“, sagt Kerstin Schmieder. Die Mitarbeiterin der Stadtverwaltung war auch bei der Bombenentschärfung im September vergangenen Jahres in der Westerhäuser Straße dabei. „Damals waren es nicht so viele ältere Menschen, die in Sicherheit gebracht werden mussten.“ Außerdem konnten damals die Leute schon gegen 20 Uhr in ihre Wohnungen zurück.

Diesmal erfahren zahlreiche Betroffene erst nach Beginn der Evakuierung von dem Ausnahmezustand im Stadtzentrum. Zu ihnen gehören Badeausflügler, die ahnungslos heimkehren und vor ihren Wohnblöcken von Polizisten empfangen werden. Wer nicht schnell bei Verwandten, Freunden oder Bekannten Unterschlupf findet, wird höflich aufgefordert, eines der beiden Notquartiere aufzusuchen.

„Das ist gut organisiert“, sagt Kerstin Schmieder. Gemeinsam mit ihren Kollegen Manfred Wegener und Stefanie Burisch betreut sie die 150 Frauen, Männer und auch Kinder in der Sporthalle. Immer wieder muntert das Betreuer-Trio die Wartenden auf, regt zu kleinen Spaziergängen in der zum Glück lauen Sommernacht an und kümmert sich, so gut es geht, um das Wohl aller.

Als „goldwert“, wie Manfred Wegener sagt, erweisen sich die spontan herbeigeschafften Stühle. Dafür hat Hallenwart Ralf Jordan gesorgt. „Unser Retter in der Not“, sagt Wegener. Die gegen 21.30 Uhr georderten Bänke nebst Tischen reichen längst nicht mehr.

An einem Tisch sitzt Annett Brandt neben einer über 80-jährigen Frau, der sie gleich zu Beginn der Evakuierung zu Hilfe eilte. „Sie hat sich gefreut, dass sie in der Not nicht alleine ist“, sagt Annett Brandt. Sie weicht der seh- und gehbehinderten Rentnerin nicht von der Seite. Obwohl in ihrem Zuhause Tochter und Mann warten, weit weg von der Gefahrenzone. „Sie haben Verständnis, ich bin nun mal so“, fügt Annett Brandt hinzu.

Im Ratshaus stehen die Telefone nicht still. Jeannette Schröder betreut den Internetauftritt und die Facebook-Seite der Stadt, stellt alle wichtigen Informationen sofort online. Die Nummern des Bürgertelefons gehören dazu. Sie gibt mit Ute Huch, Jörg Willeke und Timo Günther Auskunft, hilft Angehörigen herauszufinden, wo Mutter, Tante oder der Opa untergekommen sind. Als der Hubschrauber kreist, wachen einige Bürger auf, fragen nach, was los ist. Manche erfahren erst jetzt vom Bombenfund.

Kurz vor 1 Uhr verstummt das Motorengedröhn und Klatschen der Rotorblätter. Alle hoffen, dass die Bombe entschärft werden kann und nicht abtransportiert werden muss. Das würde mehr Zeit beanspruchen. Trotzdem soll es noch fast eine Stunde dauern, bis die erlösende Nachricht kommt: Entwarnung! Alle dürfen heim.

In den Büros der Stadt und der Kreisverwaltung bleibt das Licht bis 3 Uhr an. Noch immer gehen Anfragen am Bürgertelefon ein und auch der Rücktransport der gehbehinderten Menschen will organisiert sein. Dann endlich kehrt Ruhe ein im Herzen von Halberstadt.