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Gleimhaus Schädel, Tabakdose und Geselligkeit

In Vorbereitung auf Gleims 300. Geburtstag eröffnete das Gleimhaus Halberstadt die Ausstellung "Visionen in der deutschen Aufklärung".

Von Daniel Theuring 10.07.2018, 04:00

Halberstadt l Zur Eröffnung der neuen Gleimhaus-Ausstellung kamen sehr viele Interessierte, sodass das Team um Gleimhaus-Chefin Dr. Ute Pott noch schnell zusätzliche Stühle organisieren musste.

Ein sehr schönes Aperçu stellte der Schauspieler Gerold Ströher da, der immer wieder Textsprengsel zur Ausstellung beisteuerte, sowie die Einführung in die Ausstellung von Ute Pott und Claudia Brandt in Saxofon-Klänge einbettete.

Die Ausstellung schmiegt sich gelungen in die bekannten Räume des Gleimhauses ein. Sie beginnt mit der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entdeckten Vision der Ganzheitlichkeit des Menschen. Seele und Körper sollten nicht mehr als getrennte Medien gesehen werden. Claudia Brandt hat hierfür die Schädellehre von Dr. Franz Joseph Gall zitiert. Diese teilt das Gehirn erstmals in verschiedene Bereiche ein, die bestimmte Charakterzüge beherbergen. Hieraus resultierte auch die Lehre der Physiognomie, die für den Gelehrten anhand bestimmter Gesichtszüge eines Menschen Rückschlüsse auf dessen Charakter zulassen. Das Gleimhaus zeigt einen menschlichen Schädel in der Ausstellung, auf dem bestimmte Bereiche kartografiert sind und mittels beiliegender Legende benannt werden.

Die nächste Etappe führt zur Ganzheitlichkeit des Menschen in der Literatur. Anton Reiser: Karl Philipp Moritz ein psychologischer Roman. Die ganzheitliche Bildung des Menschen, das nächste ­Thema, resultiert daraus. Die Philanthropie und die Entstehung Philanthropischer Schulen wie das Philanthropinum in Dessau, das von Ernst Christian Trapp geleitet wurde. Damals kam das Fieber der Empfindsamkeit auf, das gewissermaßen bis heute andauert, und von den Aufklärern als Seuche angesehen wurde. „Die Pest der Empfindsamkeit!“

Steckte damals der Siebenjährige Krieg, der auch in Halberstadt wütete, allen noch in den Knochen, führt das zur nächsten Zwischenstation dieser Ausstellung: Immanuel Kant verfasste die Schrift zum ewigen Frieden, aus dem sich die Vision der Geselligkeit und Freundschaft ­herausbildete. Der Freundschaftstempel Gleims ist das Zentrum dieser Ausstellung. Dort ­entdecken Besucher eine ganz besondere Leihgabe: Die Lorenzo-Dose. Eine Schnupftabakdose, die in Gesellschaften gezückt und gebraucht, ein Gemeinschaftsgefühl verströmte. Ein kleines unscheinbares ­Döschen, das eine große ­Bedeutung dieser Zeit transportiert. Es sollen Dutzende davon im Umlauf gewesen sein, dennoch ist das Döschen im Gleimhaus das einzige Überbleibsel seiner Art und wurde vom Frankfurter Goethe-Museum entliehen.

Eine weitere Vision war die freie Autorenschaft, die besagte, dass Schriftsteller von ihrem Werk leben können sollten ohne Mäzenatentum. Sophie von Laroche und ihr Fürsprecher Christoph Martin Wieland kämpften für dieses hehre Ziel. Die Idee, dass die deutsche Sprache die Sprache der Dichter und Denker werden sollte, wurde damals maßgeblich von Friedrich Gottlieb Klopstock, der mit seinem „Messias“ neue Maßstäbe im Schreibstil amalgamierte, also verschmolz, vorangetrieben.

Die Ausstellung präsentiert im nächsten Raum eine ­Bestenliste deutscher Literatur. Besucher dürfen, wenn sie wollen, mit ausgegebenen Marken ehrlich anonym abstimmen, welche Werke sie kennen, von welchem sie zumindest gehört haben und welche sie ganz und gar noch nicht kennen. Die Bücher liegen in der Ausstellung außerdem aus und können bei Bedarf gelesen werden. Wer so mutig dazu ist, trotz neuer ­Datenschutzrichtlinie, seine Anschrift in dieser Abstimmung offenzulegen, bekommt die Chance, in einer Verlosung eine Freikarte für die Veranstaltung mit dem Literaturexperten Dennis Scheck im Herbst zu gewinnen.

Das Ideal der Humanität und Würde des Menschen ist ebenfalls eine zentrale Vision in dieser Ausstellung. Dazu gibt es einen Filmausschnitt aus Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“, der im Rahmen dieses ­Eröffnungsreigens zu Gleims 300. Geburtstag am 4. Oktober im Nordharzer Städtebund­theater, Kooperationspartner des Gleimhauses, in voller Länge zu sehen sein wird. Johann Wilhelm Ludwig Gleim war mit seiner Stiftung, seiner Literatur und seiner Sammelleidenschaft einer der zentralen treibenden Kräfte all dieser Visionen und er hat uns und unseren Kindern einen Schatz mit seinem offenen Haus, seiner Stiftung und seiner Bibliothek hinterlassen, den wir gar nicht genug schätzen können.