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Schicksale Der Junge mit dem Schifferklavier

Selten sieht man Dingelstedter Harry Kabisch ohne sein Akkordeon. Anlässlich seines 86. Geburtstages hat er über sein bewegtes Leben erzählt.

Von Ramona Adelsberger 01.10.2018, 15:07

Dingelstedt l Wenn Harry Kabisch aus Dingelstedt seinen 86. Geburtstag feiert, dann greift er bestimmt zu seinem Akkordeon, das immer griffbereit steht. Das Spiel auf diesem Instrument hat sein ganzes Leben begleitet.

„Ich bin 1951 nach Dingelstedt gekommen“, erzählt der gelernte Mauerer, der aus Merseburg stammt. Damals sei er mit Kollegen auf der Walz gewesen. „Wir waren sechs Maurer und ein Handlanger und in der ganzen DDR unterwegs, von Johanngeorgenstadt bis Rügen.“ In Dingelstedt habe er Gretchen kennengelernt, seine spätere Frau. „Also bin ich geblieben.“ Zwei Kinder sind aus dieser Liebe entstanden.

Mit der Gründung der LPG und der Bewegung „Industriearbeiter aufs Land“ habe er sich für zehn Jahre verpflichtet, in der Landwirtschaft zu arbeiten. „Dafür gab es damals 1000 Mark, das war unglaublich viel Geld.“ Er habe die Baubrigade der LPG übernommen, erinnert er sich. Später habe er sich zum Kranführer qualifiziert. 35 Jahre hat Harry Kabisch in der LPG gearbeitet, bis zur Wende.

Musik habe er schon immer gemacht, schon auf der Walz habe er, wann immer sich die Gelegenheit ergab, für gute Stimmung gesorgt. Eine Musikschule hat Harry Kabsich nie besucht. Dass er selbst keine Noten kennt, und sein Leben lang alles nach Gehör spielt, habe ihn und sein Publikum nie gestört.

Und dann erzählt Harry Kabisch die Geschichte, wie er überhaupt zum Akkordeonspiel gekommen ist. „Ich bin während des Krieges 1938/39 in Merseburg zur Schule gekommen.“ Die Zeit sei schlimm und voller Entbehrungen gewesen. Lebensmittel waren rationiert. Weil die Eltern nichts hatten, womit sie die Zuckertüte für den kleinen Harry füllen konnten, habe ein kleines Schifferklavier in der Tüte gesteckt. „Damit war die Tüte schon beinahe voll.“

Doch dann habe er immerzu gespielt. „Der größte Schatz meiner Eltern war ein Grammophon mit Schellackplatten.“ Und so habe er bei den Liedern von Vico Torriani oder Hans Albers an der Membran des Lautsprechers gelauscht und habe anschließend so lange geübt, bis er die Lieder nachspielen konnte. „Die Texte sind heute noch alle in meinem Kopf.“

Allerdings war 1946 Schluss mit dem Musizieren. Die Not zu Hause war so groß, dass der nun 13-Jährige Harry sein kleines Schifferklavier in den Rucksack gepackt hat und aufs Land gefahren ist. „Ich habe das Schifferklavier eingetauscht und zehn Pfund gelbe Erbsen dafür bekommen.“ Stolz und glücklich sei er nach Hause gekommen.

Von da an hat er nur noch auf geborgten Instrumenten gespielt und auch der erwachsene Harry Kabisch besaß lange überhaupt kein eigenes Instrument. Und mag man auch viel negatives über die Jugendorganisation der DDR, die FDJ, hören, von Kabisch kommen nur lobende Worte. Immerhin hatte er in der FDJ die Möglichkeit, Musik zu machen. Schon in der Lehre habe er in der FDJ-Laienspielgruppe gespielt. Das Instrument habe er zwar nicht mitnehmen können, doch so haben sich die Jugendlichen regelmäßig getroffen.

Und auch, nach dem er nach Dingelstedt gekommen war, habe er sich sofort der FDJ-Gruppe angeschlossen und in der in der damaligen Bauernkapelle gespielt. „Ich habe überall dort gespielt, wo man mich haben wollte“, sagt er und zählt auf: „Anderbeck, Dingelstedt, Badersleben, oft auch bei privaten Feiern und Gesellschaften.“

Wann genau er sich sein jetziges Akkordeon gekauft hat, weiß er nicht mehr. „Das muss irgendwann in den 1980igern gewesen sein.“ Zu dieser Zeit habe es zu Beginn einer jeden LPG Versammlung geheißen: „Harry spiel auf!“. Dann habe er die „Alten Kameraden“ gespielt. Einige Erinnerungen an diese stürmische Zeit hat er aufgehoben. Es gibt viele schwarz-weiß Fotos - Harry Kabisch mit dem Akkordeon stets vorweg. „Damals hatte ich noch Haare auf dem Kopf“, schmunzelt er. 1986 habe er sogar mal den Schützenumzug durch Dingelstedt begleitet, weil die Kapelle ausgefallen war.

Lange Weile hatte Harry Kabisch nie. Er hat als Kellner im Ratskeller gearbeitet, war mit Mundartsprecher Harry Hildebrandt aus Schlanstedt als „Harry und Harry“ im Harz unterwegs, hat als Gottlieb Wendehals mit einem Gockel in der Tasche viele Polonaisen angeführt und bei unzähligen Kutschfahrten als „Jäger aus Kurpfalz“ für Stimmung gesorgt. Nur selbst gesungen habe er nie. „Da würden alle weglaufen“, schmunzelt er. Er habe aber alle Texte im Kopf. „Wenn ich jedoch singe, kommen ich mit dem Spielen durcheinander.“

Bis heute ist Harry Kabisch ein Spaßvogel geblieben und immer noch ist er . Auch heute ist er gern bei Veranstaltungen dabei. „Ich spiele, solange man mich hören möchte“, meint er.

Kabisch wohnt noch heute in dem Haus, das er mit seinen eigenen Händen gebaut hat. „1957 habe ich angefangen, Bruchsteine zu sammeln, um für meine Familie ein eigenes Zuhause zu bauen. Allerdings muss Harry Kabisch heute allein klarkommen, Unterstützung beim täglichen Leben erhält er durch den Pflegedienst. Seine Frau Gretchen weiß er im örtlichen Pflegeheim in guten Händen. Sorge bereitet dem gehbehinderten Mann zurzeit sein Auto, mit dem er immer noch selbst unterwegs war und bei dem nach der letzten Hauptuntersuchung, einige Mängel festgestellt worden sind. „Ich werde es wohl abmelden müssen“, bedauert er und überlegt, sich ein Elektromobil zuzulegen. Bei seinen Auftritten sei er dann künftig auf Mitfahrgelegenheiten angewiesen.