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Schwere Explosion „Ich hatte drei Schutzengel“

Rüdiger Hampe hat die schwere Explosion in Halberstadt in allernächster Nähe überlebt. Jetzt hat der 67-Jährige die Kraft gefunden zu reden.

Von Dennis Lotzmann 12.03.2018, 07:01

Halberstadt l Wie viele Schutzengel muss man besitzen, um eine so verheerende Explosion wie jene am 23. Februar zu überleben? „Ich hatte drei – mindestens!“ Rüdiger Hampe ist nachdenklich, als er diese Worte ausspricht. Und es bedarf wenig Fantasie, sich vorzustellen, wie knapp der 67-Jährige überlebt hat. Als in der Nacht zu jenem Freitag gegen 4 Uhr die andere Hälfte des Doppelhauses binnen Sekundenbruchteilen in Schutt gelegt worden ist, schlief Hampe. „Mein Bett stand etwa zwei Meter von der Haustrennwand im Obergeschoss“, erzählt er. „Ein Feuerwehrmann hat mir später berichtet, dass dort anschließend die Mauer lag.“

Worte, die das ganze Drama deutlich machen. Als es zur Detonation kam, habe ihn die Druckwelle aus dem Bett gefegt und so wahrscheinlich davor bewahrt, von der Hauswand erschlagen zu werden. „Wie ich zu mir gekommen bin, war das Dach weg, ich habe den Sternenhimmel gesehen und es hat gebrannt“, erinnert er sich. Danach? „Da funktioniert man nur noch, ist voller Adrenalin und hat allein den Überlebenswillen. Und will einfach nur irgendwie rauskommen.“

Aus dem Schlaf gerissen werden und schnell rauskommen aus der Ruine – das sei nach der Explosion leichter gesagt als getan gewesen. Es war stockdunkel, überall lag Schutt, die Orientierung war schwierig. „Ich hatte die Wahl, aus dem Fenster der ersten Dachgeschoss-Etage zu springen und zu riskieren, mir auf dem gefrorenen Boden was zu brechen.“ Plan B war ein kleines Loch in den Trümmern, durch das es irgendwie hinab Richtung Erdgeschoss ging. Das habe er genommen – ohne freilich zu wissen, was ihn dort erwarten und ob er so überhaupt rauskommen würde.

Es klappte irgendwie. „Zuvor bin ich im Erdgeschoss über die Schuttberge geklettert, die Küche war ja auch weggesprengt. Dann ist mir eine Taschenlampe in die Hand gefallen und ich habe mich schließlich über den Wintergarten ins Freie gekämpft.“ Dort stand er dann – unter Schock, im Schlafanzug in einer eisig-kalten Februarnacht. „Zum Glück hatte ich in der Garage noch Arbeitssachen, die ich anziehen konnte.“

Die Uhr zeigte wenige Minuten nach vier Uhr in der Früh‘, als erste Nachbarn dem 67-Jährigen zu Hilfe eilten. Augenblicke später erhellte schon das Meer der Blaulichter von Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienst und Technischem Hilfswerk (THW) die Gartenstadt-Straße. Sofort kümmerten sich Rettungskräfte um Rüdiger Hampe, der eine stark blutende Kopfwunde hatte, die genäht werden musste. „Ansonsten hatte ich so was von Glück und blieb abgesehen von Prellungen weitgehend unverletzt – ich kann es angesichts des Trümmerbergs kaum glauben.“

Mittlerweile – gut zwei Wochen später – hat Rüdiger Hampe so viel Abstand gewinnen können, dass er über die schrecklichen Momente sprechen kann. „Zuerst war das gar nicht möglich, da stand ich völlig neben mir.“

Noch am Unglückstag verließ er – nach der Erstbehandlung – das Klinikum wieder. Zurück in der Gartenstadt, verfolgte er mit, wie sich die Helfer mit schwerer Technik durch den Schuttberg des Nachbarhauses arbeiteten und schließlich – wie befürchtet – eine männliche Leiche fanden.

Zwar ist laut Polizei die endgültige Klärung, ob es sich bei dem Toten um den 84 Jahre alten Bewohner des explodierten Hauses handelt, noch nicht abgeschlossen. Der nötige DNA-Abgleich dauere eine gewisse Zeit, so Sprecher Uwe Becker. Hinweise auf andere Personen im Haus gebe es aber nicht. Und: Nach der Obduktion gebe es auch keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden, so Becker. Teile der gasbetriebenen Heizung würden im Moment untersucht.

Damit scheint im Moment ein Unglück recht wahrscheinlich. Eines, das Rüdiger Hampe wie durch ein Wunder überlebt hat. Das Schicksal nimmt den Hobbyhandwerker, der mehr als vier Jahrzehnte als Schlosser bei der Halberstädter Straßenbahn gearbeitet hat, jedoch hart in die Pflicht. Er musste noch am Tag des Unglücks mit ansehen, wie sein Elternhaus Schritt für Schritt weiter zusammenbrach. „So, wie nebenan die Trümmer weggeräumt wurden, ist es nachgerutscht.“

Die THW-Helfer hätten die Aufräumarbeiten mit Vermessungstechnik begleitet – da sei rasch klar gewesen, dass seine Haushälfte nicht zu halten ist. „Ich habe im Prinzip noch am Tag des Unglücks grünes Licht für den Abriss gegeben.“

Ein harter Schritt für den 67-jährigen gebürtigen Thalenser, der hier – mit kurzen Unterbrechungen – immer gelebt hat. Seit 1990 habe er das etwa 1938 gebaute Haus weitestgehend in Eigenregie Schritt für Schritt saniert. „Abgesehen vom Dach habe ich alles selbst gemacht – selbst isoliert, auf Knien den Hof gepflastet, ich kenne jede Schraube“, berichtet er.

Am Ende konnte Rüdiger Hampe nach der Explosion nur das Allernötigste retten. Oder richtiger: retten lassen. Er selbst durfte nicht mehr rein ins einsturzgefährdete Haus. Letztlich waren es Feuerwehrleute, die ihm schnell noch das Nötigste zugeworfen haben. „Eine Jacke und Sachen, damit ich was zum Anziehen habe.“ Dazwischen zum Glück eine Brille.

Gleichwohl werde nun Tag für Tag klarer, wie immens der Verlust sei, berichtet der passionierte Hobbyfotograf. Die Computer und der Laptop – so, wie sie beim Abriss nun schrittweise den Trümmern geborgen werden – Schrott. Die Festplatten mit den Daten, den Fotos? Meist platze die Hoffnung, denn Staub, Dreck und die Druckwelle haben ihr zerstörerisches Werk in Gänze geleistet. Dazu persönliche Dinge, Papiere, Nachweise, Passwörter, Telefone mit gespeicherten Nummern – alles futsch. „Binnen einer Sekunde war fast mein gesamtes bisheriges Leben weg“, bringt es Hampe auf den Punkt.

Untergekommen sei er zunächst bei seiner im Raum Osterwieck wohnenden Lebensgefährtin. Dort könne er bis auf weiteres leben, sodass Wohnraum kein vordringliches Problem sei. Im Moment gelte es, viele Behördenwege zu erledigen. Die Halberstadtwerke seien sehr kulant gewesen, auch die Telekom habe ihn mittlerweile aus dem Vertrag entlassen.

Doch wie sieht die Zukunft aus? „Keine Ahnung.“ Seine Versicherungen hätten sich der Regulierung angenommen, kümmerten sich auch um den Abriss. „Ich selbst kann und will das gar nicht sehen.“ Ob dann irgendwann ein Neubau komme, er sich mit 67 Jahren anderswo ein kleines Häuschen suche – Rüdiger Hampe zuckt mit den Schultern. Weil es auf dem Doppelhaus-Grundstück mit dem gemeinsamen Keller schwierig werden dürfe, zeitnah etwas Neues zu bauen. Der Kontakt zum 84 Jahre alten Nachbarn sei nicht sonderlich intensiv gewesen.

Eines ist Rüdiger Hampe indes wichtig: Der ausdrückliche, herzliche Dank an alle, die ihm in den vergangenen Tagen beigestanden und geholfen haben. „Das fängt bei Feuerwehr, Ärzten sowie THW und Polizei an und reicht bis ins Rathaus, zu vielen netten Nachbarn sowie anderen Menschen, die mir geholfen haben, und schließt natürlich meine Familie und meine beiden Kinder ein. Das Krisenmanagement hat funktioniert – das war alles wirklich gut. Schlimm waren nur die Gaffer“, betont der 67-Jährige.

Apropos Zukunft: Nachdem Rüdiger Hampe in jener schicksalhaften Nacht mindestens drei Schutzengel gehabt hat, kann er nun auf einen vierten setzen. „Den hat mir“, verrät er, „meine Familie umgehend geschenkt“.