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Zeitzeugen gesucht Weißer Fleck in der Geschichte

Seit 1949 gibt es die Gedenkstätte für das einstige KZ in Langenstein-Zwieberge. Doch vieles aus der Zeit davor ist unbekannt.

Von Sabine Scholz 20.09.2019, 10:00

Langenstein l Nachdenklich schaut Nicolas Bertrand auf die vergilbte Schwarzweiß-Aufnahme, die vor ihm auf dem Tisch liegt. „Wir wissen nicht mal, ob das wirklich hier fotografiert worden ist.“ Der Leiter der KZ-Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge steht auf und wendet sich einer großen Luftaufnahme zu, die aus amerikanischen Archiven stammt und das Lagergelände zeigt. Die hellen Flächen der Massengräber nördlich des Lagers sind gut zu erkennen, daneben dünne Schattenreihen, wohl von kleinen Bäumen. „Dahinter muss eine Obstplantage gewesen sein“, sagt Bertrand. Also könnten die Bäume auf den Bild doch auch an den Massengräbern sein.

Ein Holzkreuz am Ende eines Grabes, grüne Einfassungen, Holz oder Bepflanzung in Kreuzform auf einem großen Grabbereich im Vordergrund. Am Horizont ein Waldrücken. „Wenn man annimmt, dass der Fotograf in Richtung Westen blickt, könnten das die Thekenberge sein.“ Sicher ist sich Bertrand nicht. Das Foto kam über verschlungene Wege in die Hände des Enkels eines ehemaligen Häftlings. Sollte es einer Hinterbliebenen Gewissheit geben, wo ihr Mann beerdigt wurde?

Bertrand treiben viele Fragen um. Haben Langensteiner nach Ende des Krieges sich um die Grabanlagen gekümmert, versucht, den hier verscharrten Menschen wenigstens eine etwas würdevollere letzte Ruhestätte zu geben? Die Kreuze könnten auch darauf hinweisen, dass sich Menschen aus der Kirchengemeinde fanden, diese Aufgabe wahrzunehmen. „Die Einfassungen der Gräber sind gepflegt, da hat sich jemand gekümmert“, schlussfolgert Bertrand. Aber in den Akten findet sich bislang keine Notiz.

Erst 1948 taucht das Konzentrationslager wieder in schriftlichen Quellen auf. Das 1944 aufgebaute Lager, ein Außenlager des KZ Buchenwald, diente dazu, unter dem Tarnnamen Malachit ein Stollensystem in die Thekenberge zu treiben. Untertage sollte die Rüstungsproduktion sicher sein vor den Bombenangriffen der alliierten Truppen.

„Zwischen April 1945 und Mai 1948 gibt es nichts, was uns Auskunft zum Geschehen auf dem Gelände gibt“, so der Rechtshistoriker. „Aber es muss ja was geschehen sein, und vielleicht holte man nicht einfach nur das Holz der Baracken vom Gelände, sondern kümmerte sich auch um die Gräber.“

Im Mai 1948 gab es einen Beschluss der SED-Kreisleitung Wernigerode, dass auf dem Gelände eine Erinnerungsstätte entstehen soll. „Sicher“ so Bertrand, „weil es die Massengräber gab und viele Ausländer beerdigt waren.“ Im Sommer 1948 begannen die Arbeiten, das alte Foto muss also davor aufgenommen worden sein.

Sich heute zu orientieren, fällt schwer. Nicht nur, weil die vielen vor Jahrzehnten neu gepflanzten Kiefern das Landschaftsbild rund um die Massengräber verändert haben, sondern auch, weil durch die Aufschüttung großer Mengen Abraums aus den Stollen die Höhenverhältnisse anders sind. Der große Aufmarschplatz über den Gräbern war 1968 entstanden. Aus dieser Zeit stammt ein zweites Foto, das vor Bertrand liegt. Es zeigt eine Menschengruppe vor einem Mundloch, einem Stolleneingang. Auf der Rückseite ist mit Füller notiert: „Kreisleitung am Eingang zum Haupt­stollen“.

Wieder hat Bertrand viele Fragen. „Man hatte wohl 1948 versucht, den Stollen zu sprengen, das dann aber auf Betreiben der Forstwirtschaft eingestellt, soweit ich weiß. Sicher belegt ist aber auch das noch nicht.“ Man sicherte die Zugänge, aber bis die NVA das Areal sperrte, waren hunderte Menschen in den Stollen unterwegs. „Vielleicht sind bei den Streifzügen ja auch Objekte in dem Tunnelsystem gefunden worden. Aus den Büros, die es dort unten gab, kleinere Maschinenteile oder ähnliches. Die großen Maschinen waren entfernt worden, aber wer weiß, vielleicht kann uns jemand solch ein Objekt aus dem Stollen als Dauerleihgabe zur Verfügung stellen“, sagt Bertrand. Ihm sei zugetragen worden, dass es wohl eher halboffiziell Rundgänge der FDJler durch die Tunnel gab.

Bertrand interessiert sich für Berichte darüber, für Erzählungen aus dieser Zeit. Was wurde gemacht? Was wurde gefunden? Gab es Menschen, die die Gräber pflegten? Gibt es Aufzeichnungen dazu, erinnert sich jemand an Erzählungen Älterer, war selbst dabei? Neben dem nördlichen Massengräbern ist auch die Geschichte des südlichen Massengrabes unklar. Man hatte entweder kurz nach der Lagerbefreiung oder kurz zuvor begonnen, einen alten Löschteich als Grabstätte zu nutzen. Wie es heißt, soll die Langensteiner Bevölkerung in die Bestattungen einbezogen worden sein – Belege fehlen. „Alles, was berichtet werden kann, hilft, die weißen Flecken in der Geschichte des Geländes zu tilgen“, sagt Bertrand.

Kontakt unter der Telefonnummer (0 39 41) 56 73 26.