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Minderjährige Stück Geborgenheit nach der Flucht

Das DRK in Havelberg betreut minderjährige Flüchtlinge, die unbegleitet nach Deutschland kommen. Es ist eine Durchgangseinrichtung.

Von Andrea Schröder 26.11.2015, 00:01

Havelberg l „Ich heiße Ali.“ „Ich komme aus Afghanistan.“ „Das ist ein Stift.“ „Das ist ein Buch.“ Erste Sätze, die die jungen Flüchtlinge sprechen. Ihre Muttersprache ist zum Beispiel Arabisch oder Persisch. Auch die Zahlen bis 20 kennen sie bereits auf Deutsch. Eine Havelbergerin hat sich kurz entschlossen, mit den Jungen nachmittags Deutsch zu üben, nachdem sie die Unterkunft in der Genthiner Straße ursprünglich nur besucht hatte, um Spenden abzugeben.

Sie wollen Deutsch lernen. Auf ihren Handys haben sie eine App, mit der sie die Aussprache üben, erzählt Janett Hemstedt. Sie ist die Leiterin des vom DRK-Kreisverband Altmark Ost eingestellten Teams, das sich um die Flüchtlinge kümmert. 16 Frauen und Männer. Sie sind Erziehungs- oder Kindheitswissenschaftler, Sozial- oder Heilpädagogen, Reha-Psychologen, Lehrer, Dolmetscher oder Hauswirtschafterinnen. Für bis zu 28 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ist die Unterkunft ausgelegt, in Notfällen bis zu 33. Knapp 30 wurden schon erreicht. Am Montag waren es 16 Flüchtlinge. Sie sind meist zwischen 15 und 17 Jahre alt. Bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ist in der Regel das Jugendamt ihr Vormund.

Die Mahlzeiten sind die fixen Punkte im Tagesablauf. Da treffen sich alle, essen gemeinsam. Wenn Zeit ist, setzen sich die Mitarbeiter dazu. Zwei Hauswirtschafterinnen kümmern sich um Frühstück und Abendbrot. Das Mittagessen kommt weiterhin aus der Behindertenwerkstatt Schönhausen. Zum Einkaufen fahren die Jungs mit. Überhaupt helfen sie gern, egal, ob beim Saubermachen, Wäschewaschen oder Tischdecken.

Kein Tag ist wie der andere. „Es ist immer wieder spannend, weil man nie weiß, was auf einen zukommt“, sagt Janett Hemstedt in Bezug darauf, dass stets neue Jugendliche kommen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen. Am Wochenende hatte die Einrichtung fünf Neuzugänge. Da stand am Montag die Fahrt nach Klietz in die Landesaufnahmeeinrichtung zur Erstuntersuchung auf dem Programm. Zum Röntgen geht‘s ins Havelberger Krankenhaus. Es können auch ganz einfache Sachen sein, wo Hilfe benötigt wird. Etwa, wenn die in der Kleiderkammer ausgesuchte Hose doch zu groß ist und umgetauscht werden muss. „Wir wollen, dass bestimmte Abläufe zum Alltag werden. Das funktioniert schon ganz gut und die Arbeit macht viel Spaß“, sagt Janett Hemstedt.

Je länger die Jungs in der Einrichtung sind, um so entspannter und vertrauter werden sie. Dort finden sie nach Tagen oder Wochen der Flucht erstmals Halt und Ruhe. Teilweise kommen sie mit ganz schlimmen Erfahrungen. Manche sind bis zu acht Wochen auf der Flucht gewesen. Einer hat es allerdings sogar in vier Tagen geschafft, Deutschland zu erreichen. „Es sind zum Teil schwere Gepäcke, die sie mit sich tragen“, spricht Janett Hemstedt von den seelischen Belastungen der Jungs.

Einer zum Beispiel kam aus Afghanistan. Sein älterer Bruder wurde von den Taliban getötet. Seine Eltern befürchteten, dass er, weil er bald das entsprechende Alter hatte, zwangsrekrutiert wird und sammelten alles Geld zusammen, um ihren Sohn nach Deutschland zu bringen. Er hat oft geweint, erreichte seine Eltern und die kleine Schwester nicht. „Zuhören ist oft das Beste, was hilft.“ Die Erziehungswissenschaftlerin, die bereits in Hamburg mit jugendlichen Flüchtlingen gearbeitet hat, versteht und spricht ein bisschen Farsi. Über die Flucht zu sprechen, ist ein sensibles Thema, weiß die 28-Jährige.

Hauptsächlich kommen die jungen Leute aus Syrien und Afghanistan. Auch ein Marokkaner war dabei. Rücksicht auf Nationalitäten und Mentalitäten wird genommen. Aber das Zusammenleben funktioniert recht gut.

Als sie für einen Abend ihre Gitarre mitgebracht hatte, fand sich sofort jemand, der darauf spielte. „Da waren es gerade 26 Jugendliche. Wir haben sämtliche Sitzmöglichkeiten in den Clubraum gestellt und zusammen gerappt, geschnippst und geklatscht.

Landestypische Musik wurde gespielt und aus der Küche Schüsseln, Töpfe und Besteck als Instrumente geholt. Die Jungs haben schon ihre Vorurteile im Kopf, sie schaffen es aber auch, diese zu durchbrechen. Und Musik bricht ohnehin Grenzen.“

Die Angebote im Jugendzentrum werden vormittags genutzt. Billard und Kicker sind beliebt. Am Haus in der Genthiner Straße wird zum Beispiel Badminton gespielt. Im Mühlenholz wurde eine Wiese gemäht, damit die Jungs ein Fußballfeld haben. Abends stehen „Uno“, „Mensch ärgere dich nicht“ und „Jenga“ hoch im Kurs. Sport wird generell gern gemacht. Das geht schon morgens mit Joggen und Gymnastik los. Für die Wintermonate hofft Janett Hemstedt, dass noch Zeiten in einer Sporthalle zu haben sind.

Angebote zur Integration gibt‘s. So demnächst beim Backen in der „D8“. Freude machen die Spenden. Sportschuhe und Badelatschen sind begehrt. Ein Ehepaar brachte einen Kuchen. Marmelade wurde gespendet. Kekse und Schokolade naschen die Jungs gern. Für den Deutschunterricht sind Vokabelhefte und Stifte nötig. Eifrig schreiben sich die Jungs die Wörter auf. Sie machen schnell Fortschritte, scherzen manchmal schon auf Deutsch.

Die ersten Flüchtlinge waren vier Wochen in der Unterkunft. Beim Abschied gab es viele Tränen. „Wir erkundigen uns, wie es ihnen in den stationären Einrichtungen geht, besuchen sie, sie rufen uns an. Es geht ihnen gut“, sagt Janett Hemstedt. Jetzt sind die Jugendlichen meist nur für zwei Wochen in der Genthiner Straße. Im Flur und im Büro hängen herzliche Abschiedsbriefe. Auch wenn ihr Aufenthalt nur für kurze Zeit ist, die Geborgenheit und Sicherheit, die ihnen die Mitarbeiter geben, vergessen sie wohl nicht.