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Heimatgeschichte Kleidchen in Havelberg entworfen und genäht

Historikerin Alice Peterich ist auf der Suche nach Zeitzeugen aus dem ehemaligen VEB Oberbekleidung Havelberg. Erste sind gefunden.

Von Wolfgang Masur 09.09.2016, 23:01

Havelberg l Die in Schleswig-Holstein wohnende Historikerin Alice Peterich, die sich für Kindermoden aus DDR-Zeiten interessiert, will im September in die Domstadt kommen. „Nach dem Erscheinen des Beitrages in der Volksstimme haben sich zwei ehemalige Mitarbeiterinnen des Betriebes bei mir gemeldet. Mit ihnen möchte ich ins Gespräch kommen“, freut sich die Buchautorin schon auf das Treffen. Sie nahm auch Kontakt zum geschichtsinteressierten Volksstimme-Mitarbeiter Wolfgang Masur auf, der ihr aus dem Archiv von Franz Schurwanz ein Foto von einer Modenschau, bei der in der HOG-Weltfrieden Kindermoden gezeigt wurden, zugesandt hatte.

Da auf dem Foto die Havelbergerin Sophie Birth zu erkennen war, wurde sie um eine Bild- erklärung gebeten. Sie konnte sich nicht mehr genau an diese Feier erinnern und verwies über die ehemalige Mitarbeiterin Eliese Gaing auf die Havelbergerin Ursula Herzberg.

„Meine Tochter Petra hat damals dieses Kleid von Alice Peterich entworfen“, begann das Gespräch mit der Volksstimme. Ursula Herzberg selbst war eine der Ersten, die im Bekleidungswerk gearbeitet hat. Die heute 81-Jährige erzählt dazu folgendes:

„Ich habe in dem Gebäude am Dom, das ja früher die Domschule war, ab 1951 in einer Herrenmaßschneiderei als Lehrling begonnen. Das Bekleidungswerk gab es da schon. Wir haben aber Hosen mit roten Biesen – das sind schmale, etwa ein Millimeter bis ein Zentimeter abgesteppte Falten, deren Faltenbruch auf der rechten Stoffseite liegt und flach umgebügelt wird – für die Russen genäht. Nach zwei Jahren machte mein Schneider seinen kleinen Betrieb zu und ich ging mit zwei weiteren Lehrlingen zu Schneidermeister Willi Hacker in die Pritzwalker Straße. 1956 kam ich dann in das Bekleidungswerk und wir haben Kinderbekleidung genäht. Es gab später Schichtarbeit und ich kann mich auch noch an Probleme wie etwa Stromausfälle gut erinnern. Es war aber eine schöne Zeit. 1963 bin ich zum Rat des Kreises, Abteilung Kultur, gegangen und arbeitete im Jugendkulturhaus, heute das griechische Restaurant am Markt.“

Am 4. Oktober 1949 wird das Bekleidungswerk Havelberg mit 20 Beschäftigten gegründet und gehört bis 1954 zum Konsum-Verband Brandenburg und danach zum Konsum-Bezirksverband Magdeburg. Ein Jahr darauf wird eine eigene Lehrausbildung geschaffen. Anfang der 60er Jahre steigt die Jahresproduktion auf 65 000 Stück Mädchenkleider, die von 50 Mitarbeitern genäht werden. Zu dieser Zeit erfolgt auch die Inbetriebnahme des Betriebsteiles in Klietz. 1965 werden bereits die ersten elf Lehrlinge im Bekleidungswerk ausgebildet und zehn Jahre später erfolgt die Übergabe des Neubaus am Havelberger Standort. Die Jahresproduktion steigt auf fast 190 000 Stück Kinderbekleidung.

Am 1. Oktober 1976 geht der Betrieb in Volkseigentum über und wird zum VEB-Oberbekleidung Havelberg. In den 80er Jahren wird der Havelberger Betrieb dem VEB Kombinat Oberbekleidung Erfurt zugeordnet und die Jahresproduktionen steigen zusehends. Im Jahr 1989 werden von den 220 Beschäftigten und 15 Auszubildenden in den Betrieben Havelberg und Klietz – dieser Betriebsteil wurde 1983/84 umfassend rekonstruiert – 378 000 Stück Kinderbekleidung hergestellt.

In diesen 40 Jahren von 1949 bis 1989 zeichneten sich vier Leiter für den Betrieb verantwortlich. Darunter in den ersten 15 Jahren Walter Schories, dem 1979 der Ehrentitel „Verdienter Werktätiger der Leichtindustrie“ verliehen wurde.

Nun zur Designerin des hübschen Kinderkleides, Petra Herzberg. „Ich habe 1978 eine Kleidungsfacharbeiter-Lehre in dem Havelberger Betrieb begonnen. Eigentlich wollte ich technische Zeichnerin werden, aber es wurde eng mit einem Ausbildungsplatz und so entschied ich mich für den Kleidungsfacharbeiter“, erzählt die 55-jährige Havelbergerin. „Handarbeit hatte ich früher auch immer gerne gemacht.“ Nach eineinhalb Jahren Lehrzeit geht Petra Herzberg im September 1980 nach Berlin und absolviert an der Ingenieurschule für Bekleidungstechnik ein Studium in Fachrichtung Bekleidungsgestaltung/Konstruktion. Die einstige Ingenieurschule gibt es heute noch unter dem Namen „Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin – Fachbereich Gestaltung“.

„Ich bin dann nach drei Jahren wieder in meinen Betrieb nach Havelberg zurückgegangen. In Berlin haben auch noch andere Frauen studiert, da sich der Havelberger Betrieb ja auch vergrößert hatte“, berichtet Petra Herzberg. Dann kommt sie auf das Kleid zu sprechen, das Alice Peterich in den 80er Jahren für ihre Tochter erworben hatte und das mit dem Etikett der Oberbekleidung Havelberg versehen ist. „Ich war etwas erschrocken und überrascht zugleich, ja sogar sehr verwundert, als ich die Volksstimme aufschlug und dort das Kleid sah. ,Das kennst du doch!‘ ging es durch meinen Kopf. Das ist ja mein Kleid, das ich damals entworfen habe.“ Sie findet es sehr schön, dass sich nach so vielen Jahren noch jemand dafür interessiert.

Petra Herzberg hat nicht nur dieses Kleid kreiert, sondern unzählige andere Modelle. Und von dem Kleid, das in der Volksstimme abgebildet war, hat sie sogar noch die Stoffreste und die Modellzeichnung. „Jedes entworfene Kleid bekam eine Modellnummer und dann wurde die Größe festgelegt, in der es hergestellt werden sollte. Zuvor waren wir immer, im Frühjahr und im Herbst, zur Stoffmesse in Leipzig. Und dann konnten wir unsere Ideen sprudeln lassen“, erzählt sie. In Leipzig wurde auch die gesamte Kollektion vorgestellt, zu der die Anprobe in Havelberg mit Kindern aus der Domstadt erfolgte. Kleine Veränderungen oder Zusätze gab es bei der Modellvorstellung auch, bevor die Kleider dann vom Band liefen.

Die Bänder, so hießen die Tischreihen mit den Nähmaschinen und Näherinnen im Bekleidungswerk, erkannten Petra Herzberg und ihre Mutti Ursula auf den alten Fotos wieder. „Das ist das Band ,Fortschritt‘, an dem Dagmar Hinze die Leiterin war, und hier links im Bild war das Band ,10. Weltfestspiele‘, an dem Jugendliche unter Leitung von Gaby Wernecke arbeiteten.“ Die „10. Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ fanden im Sommer 1973 in Berlin statt. Auch den ehemaligen Speisesaal im Anbau, den es heute nicht mehr gibt, die Brigade „Fortschritt“ auf dem Betriebshof und die Havelbergerin Waltraud Brabandt an der Nähmaschine weckten Erinnerungen. „Bis vor einem Jahr hatte ich noch ein Kleid aus der Produktion meines ehemaligen Betriebes. Zahlreiche Modellzeichnungen und die unvergesslichen Erinnerungen sind geblieben“, so Petra Herzberg.

Nach der Wende, im Mai 1990, wurde der Betriebsleiter abgewählt und aus der Oberbekleidung wurde eine GmbH. Am 17. Februar 1992 begann der Umzug für die verbliebenen Mitarbeiter in den Betriebsteil Klietz.

Am 31. März 1992 ging das Licht für immer im Bekleidungswerk aus.

Bis 2000 wurde in Klietz dann noch privat weiter gearbeitet, bis auch dieser Betriebsrest sich der Großindustrie ergeben musste.