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In Schönhausen Zu Besuch in der Kindheit

Ihr Herz schlägt höher, wenn sie den Kirchturm sieht. Einmal im Jahr kommt Gabriele Scharnagel nach Schönhausen, wo sie aufgewachsen ist.

Von Anke Schleusner-Reinfeldt 17.09.2020, 18:00

Schönhausen l Die Zimmer in der kleinen Pension von Reinhilde Modest in der Bismarckstraße sind gut gebucht. Touristen kommen gern nach Schönhausen, erkunden von hier aus die geschichtsträchtige Gegend. Und es sind auch ehemalige Schönhauser, die für ein paar Tage zurück in die Heimat kommen. So wie Gabriele Scharnagel, geborene Liebenow. Schon sieben Jahre bezieht sie hier – schräg gegenüber ihres damaligen Elternhauses – Quartier. „Das ist schon wie nach Hause kommen“, lächelt die Seniorin ihre Gastgeberin Reinhilde Modest beim Frühstücksplausch an. Einst verbrachte die Kölnerin den Heimaturlaub bei den Freundinnen Marie-Luise Brand und Lotte Bos, beide inzwischen verstorben. Auf die Reise in die Vergangenheit verzichtet sie trotzdem nicht. Der allererste Weg führt sie auf den Friedhof. Hier sind ihre Eltern Agnes und Dr. Wilhelm Liebenow und auch ihre Großeltern begraben. Ihr Vater war etliche Jahre Arzt in Schönhausen, bis zum Umzug 1957 auf die Insel Usedom. Das Elternhaus steht noch – es ist die heutige Gaststätte „Zur alten Linde“. Jetzt hier Gast zu sein und zu speisen, sei ein schönes Gefühl, die Bilder von einst, als sie hier lebte, sind dann besonders deutlich. Fast ist es, als wenn Mutter „Gabriele, das Essen ist fertig!“ ruft.

Die Praxis hatte sich im Parterre des Wohnhauses befunden. Somit war Hilfe rund um die Uhr garantiert. „Und wenn Vater auf Tour über die Dörfer war, haben Mutter und manchmal auch ich und mein Bruder Christian geholfen“, schaut die 85-Jährige, die selbst Ärztin geworden ist, zurück.

1934 geboren, verbringt Gabriele zusammen mit ihrem Bruder eine trotz aller Entbehrungen schöne Kindheit in Schönhausen. Dann der Krieg, auch der Vater wird eingezogen. In den letzten Kriegstagen verlassen Mutter Liebenow und die beiden Kinder fluchtartig das Haus. „Die SS suchte im Ort jemanden, der wusste, wer die weiße Flagge am Kirchturm gehisst hatte. Dieser Befragung wollte Mutter, die über alles im Dorf Bescheid wusste, entgehen und flüchtete mit uns mit dem Kahn auf die andere Seite der Elbe. Die Brücke war zu dem Zeitpunkt schon gesprengt.“ Ein paar Wochen bleiben sie bei Freunden in Wahrburg, bis sie wieder heimkehren. Das Haus war von der russischen Kommandantur besetzt, so dass die drei erst einmal anderweitig unterkommen. Im gleichen Jahr müssen sie noch zweimal das Haus verlassen, um Platz für die Kommandantur zu machen. Mutter Agnes hatte viel zu tun. Denn sie kümmerte sich um die Wiedereröffnung der Schule, wo sie dann auch mit Lehrer Semlin die Schönhauser Kinder unterrichtete. Auch im Behelfslazarett im Bismarck-Herrenhaus gab es mit all den Heimkehrern und auch Flüchtlingen viel Arbeit.

1947 kam Wilhelm Liebenow aus der Gefangenschaft heim. In der Zwischenzeit hatte Dr. Werner Burchard die Vertretung übernommen, auch zu zweit hatten sie in der großen Gemeinde und den vielen Dörfern ringsrum viel zu tun.

1957 entscheiden Liebenows, ein Angebot an der Ostsee anzunehmen und ziehen um. Gabriele macht 1952 in Tangermünde ihr Abitur, beginnt dann in Greifswald ein Medizinstudium, das sie 1957 in Magdeburg mit dem Staatsexamen beendet. 1960 heiratet die Schönhauserin in Düsseldorf, bekommt vier Söhne. Als diese erwachsen sind, kehrt sie zurück in den Beruf, arbeitet bis zum Ruhestand als Ärztin in Köln. Und besucht immer wieder die Mutter an der Ostsee, bis diese 1994 stirbt. Sie wird genau wie der Vater in Schönhausen beigesetzt. Und seitdem kommt Gabriele Scharnagel einmal im Jahr vom Rhein an die Elbe. „Ich treffe alte Bekannte, freue mich, wenn sich im Dorf wieder etwas zum Positiven verändert hat. Wir fahren nach Tangermünde und Jerichow und auch nach Mielow, wo ich Bekannte habe und den Jahresvorrat Honig kaufe.“

Sohn Tobias begleitete sie dieses Mal als Kraftfahrer beim Schönhausen-Besuch, den auch er genießt, weil er so viel über die Kindheit seiner Mutter erfährt. Sie schwärmt vor allem von ihrer Mutter Agnes, „die mir und meinem Bruder mit großem Herz ein gutes Zuhause gegeben hat. Wir Kinder konnten hier so schön spielen“, erzählt sie beispielsweise von ihrer Freundin, die gegenüber in der späteren Molkerei gewohnt hat, „da konnten wir so schön Rollschuhe laufen“. Wenn sie jetzt durch Schönhausen fährt, weiß sie zu vielen der alten Häuser eine Geschichte zu erzählen und wo sich Bäcker, Fleischer, Schuster oder die zahlreichen Gasthäuser befanden. Oder die alte Schule in der Schulstraße, wo sich jetzt Steuerbüro und Wohnungen befinden. „Schön zu sehen, dass viele der alten Häuser von einst bis heute so schön gepflegt erhalten sind.

Freuen würde sich Gabriele Scharnagel, wenn sie bei ihrem nächsten Besuch in Schönhausen durch den Park schlendern könnte. „Dort sieht es jetzt ja schlimm aus! Schade, dass die Sanierung so lange dauert! Ich bin gespannt, was sich bis zum Sommer 2021 getan hat“, verabschiedet sich die Seniorin von der Heimat.