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Kriegsende Elbe wird im Mai 1945 zum Massengrab

Vor genau 75 Jahren schwiegen nach fast sechs Jahren Krieg endlich die Waffen. Eine Chronologie der letzten Kriegstage in unserer Region.

Von Ingo Freihorst 07.05.2020, 15:00

Elbe-Havel-Land l Die Elb-Havel-Region wird von der 12. Armee verteidigt, nach ihrem Befehlshaber, dem Panzer-General Walther Wenck auch Wenck-Armee genannt. Eigentlich sollte sie gen Westen ziehen, doch ist Berlin am 22. April von der Einschließung bedroht. So wird Wenck befohlen, zur Reichshauptstadt umzuschwenken. 20 000 eingeschlossene Soldaten aus dem Potsdamer Bereich brechen aus und stoßen zu dieser Armee, zudem 3000 Patienten aus den Beelitzer Heilstätten. Am 1. Mai gelingt auch der 9. Armee der Durchbruch. Walther Wenck beschließt den Rückzug zur Elbe – mit dem Ziel der Gefangennahme durch die Amerikaner.

 

Das 18. Regiment der 6. polnischen Panzerdivision erreicht am Morgen des 4. Mai die Elbe südlich von Sandau. Östlich davon stößt das 16. Regiment auf starken Widerstand. Erobert wird Sandau mit Hilfe sowjetischer Verbände der 212. Division des 80. Korps der 61. Armee, die aus Havelberg vorstoßen. Zwischen Sandau und Schönfeld ist nun „feindfreies Gebiet“.

Die deutsche Front wird gemäß Befehl des Armee-Oberkommandos auf die Linie Molkenberg-Rehberg-Kamern-Wulkau zurückgenommen. Durch das Eingreifen des Hutten-Regiments wird der Aufbau des Brückenkopfes Zerben-Wusterwitz-Klietz möglich, in dessen Schutz über 100 000 deutschen Soldaten in die amerikanische Gefangenschaft gehen. General Maximilian Reichsfreiherr von Edelsheim verhandelt dazu im Auftrag von Walther Wenck in Stendal mit der US-Armee. Zur selben Zeit verbrüdern sich bei Sandau amerikanische und sowjetische Soldaten.

Nach verlustreichen Gefechten drängen die Sowjets den Brückenkopf auf das Gebiet Genthin-Hohengöhren zusammen. Bei Großwudicke bauen die Deutschen eine neue Abwehrfront auf, die wegen wachsenden sowjetischen Drucks anderntags auf Schmetzdorf und Wusterdamm zurückweichen muss.

In Schönhausen geht das Grenadierregiment 3 der Scharnhorst-Division mit neu angelieferten Werfern in Stellung. Einen Feuerbefehl erhalten die Bedienungen aber nicht. „Wir richten uns ein, leben gut bei Bohnenkaffee, Wein und Haferflocken,“ berichtet ein Unteroffizier.

Besonders starker Widerstand schlägt den polnischen Soldaten – dem 11. Regiment der 4. Panzerdivision – am 5. Mai in Klietz entgegen. Wiederholt müssen die Polen an diesem und am Folgetag Gegenangriffe zwischen Klietz und Ferchels abwehren.

Verletzte deutsche Soldaten dürfen an Fährstellen bei Schönhausen, Tangermünde und Ferchland als erste übersetzen. Viele ihrer Kameraden müssen später entgegen den Abmachungen dennoch in sowjetische Gefangenschaft.

Am Abend erreicht die schwere Abteilung des Artillerieregiments der Infanteriedivision „Scharnhorst“ Fischbeck und geht mit den Geschützen auf Lichtungen im Wald nördlich der Straße nach Kabelitz in Stellung. Im Dorf wird der Gefechtsstand eingerichtet, schwere Feldhaubitzen helfen bei der Abwehr des Gegners. Munition ist auf einmal mehr als reichlich vorhanden, so wird auf jedes Ziel geschossen. Der einst heilige Begriff der „Munitionsverschwendung“ gilt nicht mehr.

An der gesprengten Schönhauser Bahnbrücke errichten Pioniere des 50. Schweren Pionierbataillons der Wehrmacht einen Floßsacksteg, bei Fischbeck sind es die Amerikaner, die einen Steg neben der zerstörten Brücke errichten. Oben ran hängen sie ein Transparent: „Das verdanken wir dem Führer.“

Gefreiter Joachim Scholz von der 342. Infanterie-Division, der hier mit Tausenden über den Fluss geht, erinnert sich: „Wir gelangten an Stellen auf den Brückentrümmern, da hatte ich den Eindruck, wir müssten eine Zirkusnummer auf dem Hochseil vollbringen.“ Ein anderer Soldat berichtet, dass am Ostufer „ein wahrer Friedhof entsteht, tausende von Fahrzeugen, Brückengeräten, Geschützen sind über die Elb-Mulde verteilt.“ Auf dem schmalen Steg kann nur das Nötigste mitgenommen werden, Stahlhelme klatschen zuhauf ins Wasser. Den zu hundertausenden in den Elbwiesen lagernden Zivilisten ist das Übersetzen von den Amerikanern verwehrt worden. Tausende werden dennoch – auch mithilfe von Soldaten – mit Flößen, Schlauchbooten und Kähnen übergesetzt. Andere versuchen verzweifelt auf eigene Faust, auf der Flucht vor den Russen das Westufer zu erreichen, so auf Toren, Fässern oder Türen. Das ist lebensgefährlich: Am Ende treiben hunderte Ertrunkene im Fluss.

Als die Rote Armee am 6. Mai bemerkt, dass die Deutschen über die Elbe entfliehen, verstärkt sie ihre Angriffe – unter anderem bei Wust und Kabelitz. Jetzt reicht der deutsche Brückenkopf nur noch von Hohengöhren bis Ferchland, verbissen verteidigt von den Divisionen „Körner“, „Hutten“, „Scharnhorst“, „Schill“ und „Jahn“ (von Nord nach Süd). Der Platz für die 12. Armee ist sehr klein geworden, deshalb ist Artillerie und Munition genügend vorhanden – sogar Verpflegung findet sich später am Ufer in rauen Mengen.

Zurückgelassene Fahrzeuge und Geschütze werden gesprengt, Pferde in den Wald getrieben: „Nachdem wir unseren Lkw verlassen haben, wird ein gefülltes Benzinfass auf der Ladefläche mit Karabinerschüssen durchlöchert und das auslaufende Benzin angezündet.“ Soldaten einer Feldhaubitzen-Batterie kippen tausende Liter Benzin in den Wald, um die leeren Fässer zu Flössen umzubauen. Andere montieren Reifen ab, um an die Luftschläuche zu gelangen. Süßigkeiten werden in riesigen Mengen verteilt.

In Schönhausen richtet die Division Körner ihren letzten Gefechtsstand ein, die Überreste der Artillerie werden im Bismarckschen Gutspark in Stellung gebracht. An der Reichsstraße 188 kommt es zu schweren Kämpfen, die Rote Armee will den Brückenkopf eindrücken. Am Wuster Arbeitsdienstlager toben erbitterte Gefechte. Bei Schönhausen, Wust und Fischbeck kommt es zu erbitterten Gefechten. Die Division Schill muss ihre Riegelstellung östlich von Melkow aufgeben. Am Abend klingen die Kämpfe zwischen Klietz und Ferchels ab. Auf einem fünf Kilometer langen Abschnitt bricht zwischen Klietz und Hohengöhren der linke Flügel der 47. sowjetischen Armee zur Elbe durch und teilt den Brückenkopf. Die Sturmkompanie der Division „Scharnhorst“ kann die Gegner noch einmal zurückwerfen, so dass das Übersetzen bis zum Abend des 7. Mai fast abgeschlossen wird. Auf Befehl von Marschall Georgi Schukow wird die 1. Polnische Armee nach dreiwöchigen Kämpfen in der Nacht zum 7. Mai von der Sowjetarmee an der Elbe abgelöst.

Im Morgengrauen des 7. Mai greifen die Sowjets bei Wust erneut an, westlich davon haben sich die Reste des II. Bataillons an einem Bach festgesetzt. Teile des I. und II. Grenadierregiments der 12. Armee leisten zwischen Sydow, Briest und Mangelsdorf hinhaltenden Widerstand. Unterstützt werden sie dabei durch starkes Artilleriefeuer der Division „Scharnhorst“. Dirigiert wird die Artillerie durch Beobachter in den Kirchtürmen, die Geschütze stehen hinterm Deich bei Jerichow.

Panzer der Sowjetarmee brechen am Vormittag südlich der Tangermünder Brücke zur Elbe durch und nehmen auch das andere Ufer unter Beschuss – wobei auch Amerikaner verletzt und getötet wurden. Diese ziehen sich daraufhin zwei Kilometer vom Elbufer zurück – und die deutschen Soldaten nehmen im Schutze der Nacht das Übersetzen von Zivilisten wieder auf. Zurückbleibende Frauen, Greise und Kinder erleiden später im Feuer der Roten Armee hohe Verluste.

Die 12. Armee hatte in den Verhandlungen mit den Amerikanern immer von 20 000 bis 30 000 Soldaten gesprochen, am Ende waren es über 118 000, erinnert sich ein amerikanischer Offizier. Der US-Korrespondent Wes Gallangher berichtet: „Die einst stolze deutsche Wehrmacht stirbt einen schändlichen Tod am Ufer der Elbe. SS-Panzertruppen, die einst Deutschlands Elite waren, setzen auf provisorischen Flößen über die Elbe. Einige schwimmen und lassen ihre ordensgeschmückten Uniformen zurück. Die zehntausenden Soldaten am Ostufer sind mehr als eine geschlagene Armee. Sie sind eine verängstigte Masse – aus Schuld und schlechtem Gewissen, voll Angst vor den Russen.“

Es sind übrigens nicht nur Rotarmisten, welche von den Gefangenen als erstes die Uhren einsammeln, das geschieht auch bei den Amerikanern. Noch schlimmer dran sind die Zivilisten: Die Plünderungen und Vergewaltigungen durch die Sieger beginnen. Der Nachhall des Krieges schlägt mit aller Härte zurück auf das Volk, das ihn 1939 entfesselt hatte.

Lesetipps: Günther W. Gellermann, „Die Armee Wenck – Hitlers letzte Hoffnung“, ISBN 978-3-7637-6266-3; Henrik Schulze, „19 Tage Krieg – Die RAD-Division Friedrich Ludwig Jahn in der Lücke zwischen 9. und 12. Armee“, ISBN 978-3-932566-45-5; „Kriegsende und Nachkriegszeit in Havelberg“, Heimatheft-Reihe.