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Kirche im Wandel Für Sprachlose eine Sprache finden

Pfarrer Bernd Schulz geht in den Ruhestand. Mit einem Gottesdienst wird er verabschiedet.

Von Siegmar Riedel 01.08.2018, 03:00

Kusey l Ein Berliner Kennzeichen ist schon an seinem Auto angebracht. Bernd Schulz, Pfarrer im Bereich Steimke-Kusey, wird die Altmark nach 30 Jahren im Dienst als Pfarrer in der Altmark in Richtung Berlin verlassen. Genauer gesagt, nach 35 Jahren. Denn bereits 1983 schloss er nach dem Studium ein Vikariat in Kusey an. „1988 bin ich dann ordiniert und als Pfarrer eingeführt worden“, berichtet Bernd Schulz. Im Gespräch mit der Volksstimme blickt er auf die Zeit in der Altmark zurück. Was eigentlich einige Jahre währen sollte, dauerte schließlich sein ganzes Berufsleben.

„Das war so nicht gedacht, eigentlich wollte ich nach fünf Jahren wechseln“, erzählt Bernd Schulz, der am Sonntag seinen 64. Geburtstag feierte. „Doch dann kam die politische Wende, und damit kamen neue Herausforderungen auf mich zu.“ Kurz und gut: Der Altkreis Klötze wird seine erste und bis zum Schluss einzige Pfarrstelle sein. Er blieb in der Altmark.

Die Wende war für ihn eine prägende Zeit. Und er selbst prägte maßgeblich die friedliche Revolution im Raum Klötze. „Für unsere Generation war die Wende das große Lebensereignis. Als Kirche haben sich uns Dinge eröffnet, von denen wir zuvor nichts geahnt hatten“, erinnert Bernd Schulz.

Eines Tages kam ein Aufruf vom Neuen Forum in Magdeburg. „In Salzwedel und Gardelegen passierte was, in Klötze nicht. Wir sprangen in die Bresche“, beschreibt Bernd Schulz die Situation. Er selbst gründete deshalb das Neue Forum in Kusey, das Sammelbecken aller, die im Altkreis Klötze mit der DDR nicht mehr einverstanden waren und handeln wollten: Oppositionelle, Unzufriedene, Fragende, Aktive, Träumende oder nur Neugierige. Der damalige Vorsitzende des Gemeindekirchenrates, Johannes Müller, habe zu ihm gesagt: „Wir müssen aufpassen, dass das hier nicht eskaliert. Ich kümmere mich um die Gemeinde, Du um das Neue Forum.“ Damit war der Weg frei zum Handeln.

Wichtig sei gewesen, „wir haben allen einen Raum zur Verfügung gestellt. Einen Raum zum Protest, Nachdenken, Reden“, begründet Pfarrer Schulz. Das erste Treffen war in der Neuferchauer Kirche, für das zweite war die schon zu klein. „Wir mussten nach Kusey wechseln.“

Bernd Schulz galt immer als unbequemer, streitbarer politischer Pfarrer. Eigentlich eine logische Folge seines Werdegangs, ein roter Faden, der sich durch sein Leben zieht, wie er selbst über sich sagt. „Mein Elternhaus hat meinen politischen Blick mit geprägt. Im Studium habe ich begriffen, was es heißt, wenn Kirche politisch ist“, verdeutlicht er. „Wir müssen als Kirche sein, wo die Würde des Menschen in Gefahr ist.“ Das sei zum Beispiel in der DDR so gewesen und ganz besonders an ihrem Ende.

„Die Stasi dachte, wir im Neuen Forum sind alle vernetzt. Das waren wir aber gar nicht“, weist Schulz auf die damals latente Gefahr durch Spitzel hin. Auch er blieb davon nicht verschont. „Die Stasi saß mir schon seit meiner frühesten Jugend im Nacken“, verriet Bernd Schulz.

Als Opposition verfügten sie in der Wendezeit auch durch die Kirche über Strukturen, die andere Parteien und Vereine nicht hatten. Für seine Haltung und sein Engagement im Neuen Forum erntete Bernd Schulz viel Respekt. „Die Situation stärkte meine Position“, sagt er. „Ich war plötzlich Sprachrohr für die Bauern hier. Als Kirche waren wir in gewisser Weise geschützt.“

Das betrachtet Bernd Schulz bis heute als seine Aufgabe und die der Kirche: „Für die Sprachlosen eine Sprache finden.“

Mit dem Neuen Forum gelang es immer wieder, die aufgeheizte Stimmung in friedliche umzuwandeln. Bernd Schulz hat eine Erklärung dafür: „Das zeigt mir, welche Kraft in Gottes Wort steckt.“

Nicht selten hörte Bernd Schulz den Vorwurf, er sei zu politisch, er würde zu politisch predigen. „Das haben die Gemeindeglieder mitgetragen. Ich bin dankbar, dass viele mir vertrauten und ich sie ein Stück ihres Lebens begleiten durfte“, betont der Pfarrer.

Nach der Wende dann die große Verunsicherung: „Was ist jetzt unsere Rolle als Kirche?“, nennt Schulz ein Beispiel. Die Arbeit an Runden Tischen und im Neuen Forum ging weiter. Neue Aufgaben schrieb er sich auf die Fahnen. Politisch war dann auch die Entscheidung zum Bau des Evangelischen Landjugendzentrums (ELZ). Ursprünglich ein Kind von Bernd Schulz. „Weil wir keine Gemeinderäume hatten, gab es schon zu DDR-Zeiten die Idee, ein Gemeindehaus zu bauen“, berichtet er. „Ein Skizze hatte ich schon im Schreibtisch, wissend, dass sie nicht realisierbar ist.“ Die Situation in Kusey einige Zeit später brachte den Stein ins Rollen. „Die FDJ zog aus dem Jugendklub aus, die Rechten nisteten sich ein“, verdeutlicht Schulz. „Das war der Anlass, präventiv das ELZ zu bauen.“

Ein glücklicher Zufall: Zeitgleich förderte die Evangelische Kirche Deutschlands Gemeindehäuser, und es gab ein Landesprogramm zur Förderung der Jugendarbeit. Bernd Schulz trug dem Mitarbeiter im Klötzer Jugendamt seine Idee vor. Der habe zu ihm gesagt: „Herr Schulz, wenn Sie Geld haben wollen, muss alles viel größer werden.“

Ein Architekt wurde gesucht, alles ging Hals über Kopf. Anfängliche Bedenken („Was sollen wir mit 500 Quadratmetern anfangen?“) sind schnell weggewischt worden. „Und es wurde eine Erfolgsgeschichte“, freut sich Bernd Schulz. Das sei aber nicht allein sein Werk, auch die Kirchenältesten hätten ihren Anteil, die Zivis, ABM-Kräfte und andere.

Genutzt wurde das ELZ für die Arbeit mit Jugendlichen. Sie starteten viele Projekte, arbeiteten die DDR-Geschichte auf, den Nationalsozialismus, engagierten sich in einem Demokratie-Projekt.

„Mein Seelsorger sagte mir mal, ich solle nicht erwarten, Anerkennung zu bekommen. Das habe ich nicht so erlebt, ich bekam immer Anerkennung, auch von Jugendlichen“, betont Bernd Schulz nicht ohne Stolz.

2004 initiierte er ein viel beachtetes Projekt zum Thema Demokratie und Umgang mit anderen Religionen. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hielt die Eröffnungsrede.

Doch nicht alles in all den Jahren war so erfreulich. Es gab auch Knatsch. „Sogar heftigen Knatsch“, verbessert der Pfarrer. Was ist geschehen? 2009 fehlte im Altmark-Klinikum Salzwedel ein Seelsorger. Bernd Schulz verfügte über die entsprechende Ausbildung und wollte übernehmen. „Der hohe Anspruch verbunden mit großer Anerkennung – das reizte mich“, sagt er heute.

Im Krankenhaus wollte man ihn ganz, er sollte ein Hospiz aufbauen. Jedoch habe die Landeskirche keinen Vertrag zustande bekommen, erläutert Bernd Schulz. Verantwortliche wechselten, Verträge wurden gekündigt, ein neuer Superintendent kam ins Amt. Alles sei ziemlich dramatisch gewesen, sagt Bernd Schulz und formuliert das Ergebnis: „Mir wurde gesagt, für mich sei im Kirchenkreis kein Platz mehr.“

Es sei passiert, was er sich nie habe träumen lassen: „Ich konnte mich nur noch mit einem Anwalt gegen die Vorwürfe wehren.“ Die Seelsorge war passé, sie wollten ihn ganz weg haben, er bekam kein passables Angebot mehr. Das alles schlug sich auch auf die Gesundheit des Pfarrers nieder. Jahrelang blieb die Entscheidung offen. „Bis es ein Machtwort von mir und meinem Anwalt gab. Einige Dinge will ich lieber gar nicht erzählen“, verdeutlicht Schulz. 2012 sind die Pfarrbereiche Steimke, Kusey und Immekath vereint worden. Bernd Schulz übernahm die Pfarrstelle. „Ich bin froh, dass wir eine ganz gute Zusammenarbeit hinbekommen haben. Das kostete viel Zeit und Kraft“, betont er.

Als die AfD aufkam, organisierte er Gesprächsrunden. Als die Firma Fricopan in Immekath vor dem Aus stand, bot er Gespräche an und lud die Mitarbeiter zum Gottesdienst ein. Doch die ganz großen Projekte wurden weniger. „Man wird älter, die Energie lässt nach“, begründet er selbst. „In Spitzenzeiten arbeitete ich 12 bis 16 Stunden am Tag. Das geht nicht mehr spurlos.“

Überhaupt hat sich Kirche stark gewandelt, haben sich die Gemeinden der Altmark verändert. „Die Dörfer sind inzwischen pluralistisch wie die Gesamtgesellschaft. Das macht die Arbeit für die Kirche komplizierter“, erklärt Bernd Schulz. Ein großes Problem: „Wir haben es bitter nötig, uns um unser Personal zu kümmern. Es muss einen großen Lernprozess geben, wenn wir nicht irgendwann ohne Mitarbeiter dastehen wollen.“ Neue kirchliche Treffpunkte müssten geschaffen werden. Die Freikirchen und die Katholiken würden zeigen, wie es gehe. Zwar sei der Gottesdienst nach wie vor Zentrum der Gemeinde. Schulz: „Aber wenn wir keine neuen Zentren schaffen, auch mal ein paar Kilometer fahren, dann stirbt der Gottesdienst. Der normale Gottesdienst ist ohnehin nicht zeitgemäß. Die Menschen wollen besondere Gottesdienste, aber nicht jede Woche.“ Das habe eine von ihm organisierte Umfrage ergeben.

Ab 1. September beginnt für ihn der Ruhestand. „Richtig Rentner, es sei denn, es brennt“, sagt er. In der Ausbildung von Krankenhausseelsorgern will er sich noch engagieren. „Es ist nicht so, dass ich nicht weiß, was ich den ganzen Tag machen soll“, scherzt Bernd Schulz. Berlin biete genügend Ideen. Tochter und Enkel, die Familie überhaupt rücke jetzt mehr in den Mittelpunkt. „Ich freue mich darauf, mich nicht mehr anpassen zu müssen und frei entscheiden zu können. Ich kann den Tag selber einteilen, wie ich möchte. Ich bin nicht völlig frei in meinen Entscheidungen, aber freier als jetzt.“

Bernd Schulz und seine Frau fühlten sich wohl in der Altmark. „Wir wurden immer von den Kirchenältesten unterstützt“, hebt Schulz hervor. „Sie gingen immer ein auf meine Ideen. Die dauerhafte Unterstützung war sehr schön und ein Grund dafür, dass wir so lange geblieben sind. Ich wünsche meinem Nachfolger, dass auch er oder sie mit offenen Armen empfangen wird.“