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ESC in Tel Aviv Und täglich ruft der Muezzin

Der 64. Eurovision Song Contest findet in Tel Aviv statt. Von dort berichtet die Altmärkerin Petra Schütte.

Von Petra Schütte 18.05.2019, 04:00

Kusey/Tel Aviv l Die Euphorie der ESC-Gruppe aus Kusey war gedämpft. Wir überlegten ernsthaft, ob wir in Anbetracht der aktuellen politischen Ereignisse tatsächlich reisen sollten. Doch der Mut siegte. Die Kontrollen auf dem Berliner Flughafen waren angemessen. Wir wurden mehrfach kontrolliert.

Uns erwartete eine beeindruckende Stadt mit europäischem Flair – eine junge Stadt mit moderner Altstadt im Bauhausstil und moderner Architektur. Tel Aviv ist aber auch traditionell arabisch. Fünfmal täglich ruft der Muezzin zum Gebet, auch morgens 4 Uhr.

Die arabische Bevölkerung war aufgeschlossen und nett. Die Einwohner freuten sich, dass wir uns für ihren Stadtteil interessieren. Die Unterschiede zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung sind auffällig.

Aufgrund der hohen Preise für die Tickets und der nicht ganz verschwundenen Sicherheitsbedenken sind in diesem Jahr deutlich weniger internationale ESC-Gäste angereist. Der Euro-Club ist überdimensional groß, die Veranstaltungshalle mit 7500 Plätzen jedoch überschaubar.

Beim Food-Festival ist ein Frankfurter Würstchenstand der Renner. Vor „Franks beste Wurst“ steht kontinuierlich eine lange Schlange.

Die Wege innerhalb der Stadt lassen sich durch die Mischung aus öffentlicher Buslinie, Mieträdern und E-Scootern gut bewältigen. Allerdings lohnt es sich manchmal, zu Fuß weiterzugehen.

Die Mädels von Sisters, die Deutschland heute im Finale vertreten, sahen die Altmärker schon bei einer Probe. Es war Charlotta und Laurita anzusehen, dass sie mit Freude, aber auch hochkonzentriert ihren Auftritt probten. Das Bühnenbild gefällt, die Stimmen der beiden sind fantastisch. Die Botschaft des Songs, das Frauen geschwisterlich miteinander umgehen, einander nicht nur etwas gönnen, sondern sich auch fördern sollen, nimmt man ihnen ab. Sie wirken wie vertraute Schwestern.

Bei einer Pressekonferenz beantworteten Charlotta und Laurita überzeugend und charmant alle Fragen der Reporter. Sie erzählten, was es ihnen bedeutet, Teil des ESC zu sein und wie sehr sie wüssten, welche Hoffnungen sie auch für viele Fans verkörpern. Im Anschluss sangen sie den ESC-Klassiker „Halleluja“ in Hebräisch. Das war sehr beeindruckend.

Überraschend für mich war der Probenauftritt des Franzosen Bilal Hassani. Er kritisiert in seinem Song, dass Menschen häufig in eine Schublade gesteckt werden. Das wird auch auf der Bühne dargestellt. Schrifteinblendungen mit eigenen Zitaten hält er seinen Kritikern entgegen.

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Bei der Eröffnungsveranstaltung auf dem orangenen Teppich trat er mit langem blonden Haar, goldfarbenem Glitter und weißem Kleid auf, das den Anschein eines Hochzeitskleides mit einer drei Meter langen Schleppe hatte. Künstler, die polarisieren, waren in der Vergangenheit schon mehrfach erfolgreich. Man darf gespannt sein.

Bei der Präsentation verteidigte ich standhaft meine Position. Dem litauischen Sänger muss das aufgefallen sein. Er kam extra zurück und lächelte in meine Kamera, wahrscheinlich, damit ich auch mal ein nettes Motiv vor die Linse bekomme. Und als Charlotta und Lautita vor mir standen – war mein Akku leer! Fazit des Abends: Pressearbeit ist keine einfache Sache, besonders nicht, wenn man nur 1,64 Meter groß ist.

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Prognosen für das Finale abzugeben ist schwierig. Im Vorfeld wurden viele Wetten gemacht. Die Buchmacher sind stets fleißig mit den Abgaben der Gewinnquoten weit vor dem eigentlichen Entscheid. Im Laufe der ESC-Woche kommt jedoch immer neuer Schwung hinein. Der Franzose lag eigentlich nicht sehr weit vorn, und der Schwede auch nicht. Lohn Lundvik hat aber so eine positive Ausstrahlung und einen eingängigen Song zum Mittanzen und Mitsingen, dass auch er gute Chancen hat zu gewinnen. Schweden kann es einfach!

Gefeiert wird auch Luca Hänni aus der Schweiz mit seinem Song „Dirty Dancing“. Es macht Spaß, dem sympathischen Schweizer bei seiner Performance zuzusehen. Und singen kann er ja – das wissen die Fans von DSDS, da er der Sieger aus dem Jahre 2012 ist.

Herausstechend und für viele Zuschauer auch befremdlich trumpft Island auf. Hatari präsentiert sich mit einer Sado-Maso-Techno-Nummer der härteren Art. Im Lied geht es um Hass, Stacheln, Ketten und Folterinstrumente, dazu eine Glitterkugel, auf die ein Mann mit großem Hammer einschlägt. Die Truppe erinnert an Rammstein. Das kann man mögen oder auch nicht. Den Weg ins Finale haben die Jungs jedenfalls geschafft.

Mein Favorit ist Sergey Lazarev. Er tritt zum zweiten Mal nach 2016 an, als er den dritten Platz belegte. In seinem Song „Scream“ geht es um schwierige Momente, die wir überwinden müssen.

Als Top-Favorit wird Duncan Laurence aus den Niederlanden gehandelt. Er singt eine Ballade und sitzt dabei am E-Piano – völlig unspektakulär. Mal sehen, wie er beim Publikum ankommt.

Im Ergebnis haben wir die Reise nicht bereut. Wir fühlen uns hier sehr wohl und sicher. Man erwartet aufgrund der täglichen Nachrichten eine mit bewaffneter Armee gesicherte Stadt und eine angespannte Stimmung. Das ist nicht eingetroffen. Wir freuen uns, Tel Aviv von seiner Sonnenseite kennengelernt zu haben mit all den netten Menschen, die sich freuen, dass sich Europa für ihre Stadt interessiert.