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Zeitgeschichte Fotos einer untergegangenen Welt

Das Kulturhistorische Museum Magdeburg hat am Sonntag ein wertvolles und zugleich denkwürdiges Geschenk gefeiert - 125 Schwarz-Weiß-Fotografien.

Von Katja Tessnow 22.02.2016, 00:01

Magdeburg l Am Sonntag kurz vor elf werden Stühle in den Kaiser-Otto-Saal des Kulturhistorischen Museums geschleppt. Die rund 200 aufgestellten sind besetzt. Am Ende werden eine Menge Besucher stehend verfolgen, was Dietrich Bahß zu sagen hat.

Das Kulturhistorische Museum hat zur Matinee eingeladen und feiert eine Schenkung: 125 Schwarz-Weiß-Fotografien, die das Leben in Magdeburg zwischen 1979 und 1983 spiegeln, fast so, dass man es riechen kann. Es werden Gefühle wach bei denen, die schon da waren damals und noch da sind. Darauf wird später ausgerechnet ein Besucher zu sprechen kommen, der sich als aus dem Westen zugereist outet.

Dietrich Bahß, der Schöpfer und Schenker der Fotos, ist im Westen lange nicht heimisch geworden. Das räumt er gestern ohne Umschweife ein und spricht von einem „ganz bösen Kapitel“ in seinem Leben. „Alles neu, alles fremd.“ Aber er, der damals 34-Jährige, hatte eben gelernt, den ihm bekannten Alltag kunstvoll auf Fotos zu bannen. „Ich bin kein Reisefotograf. Mich interessiert, was wir alltäglich sehen und schon nicht mehr wahrnehmen.“

Im Magdeburg der 1980er Jahre nimmt Bahß jede Menge Lebendigkeit neben dem Verfall wahr. Er gewinnt Hochachtung vor den Gießern im Sket und nennt eine Fotoserie „Working Class Heroes“, obwohl er keine Anglizismen mag. „Aber hier passte der Titel des John-Lennon-Songs einfach.“ Bahß fotografiert Hinterhöfe am Hassel, die Einberufung zur NVA auf dem Domplatz („Da brachte Mutti noch den Sohn zur Armee. Heute fährt man selbst mit dem Auto hin.“), das Szeneleben im Café Liliput und er gehört zur Szene dazu.

Im Visier der Staatssicherheit steht er da längst, hat sich als Student 1968 den Mund verbrannt – gegen die Panzer, die in Prag auffuhren. Das Mathematikdiplom in der Tasche findet Bahß keine Anstellung als Mathematiker; er soll und darf keine finden. Der junge Bahß schlägt sich als Heizer durch. Quasi nebenbei wird er Künstler. „Weil ich nicht malen konnte, fotografierte ich.“

Die Idee zur Eröffnung der privaten Galerie sei ihm und seiner Frau aus rein räumlichen Gründen gekommen. „Wir haben die Wohnung in der Hegelstraße besichtigt. Da hieß es plötzlich, es gebe noch einen Raum übern Flur. Als wir den gesehen haben, stand für uns fest. Das ist eine Galerie!“ Sie hätten einfach ein paar Bilder aufhängen und sich schöne Abende mit vielleicht 15 Gästen machen wollen. Bald kommen über einhundert aus allen Teilen der Republik. Große Maler (A. R. Penck) und große Geister (Heiner Müller) stellen aus und lesen vor. Die Galerie lebt und wie! Zu sehr, als dass sie in der DDR überleben sollte. Sie wird als Sammelbecken Oppositioneller ausgemacht, von zeitweise 72 (!) Spitzeln beobachtet und mit der Quasi-Ausweisung des Betreiberpaars 1983 beerdigt. Ausreise oder Haft. Familie Bahß geht nach Köln und Dietrich Bahß wollen lange keine Fotos mehr gelingen, „eigentlich erst seit 5 oder vielleicht 10 Jahren wieder“. „In Magdeburg waren Freunde, auch ein paar Feinde. In Köln war nichts.“

Die Geschichte im Ohr und die Fotos von Bahß vor Augen sagt ein Besucher, der westlich aufwuchs: „Das sind Fotos von einer untergegangenen Welt. Mein Gefühl sagt, es hat auch eine Art DDR-Patriotismus gegeben, ein Heimatgefühl.“ Bahß bestätigt: „Wir wollten nicht weg. Wir wollten nicht Ulbricht oder Honecker stürzen oder eine Wiedervereinigung. Wir wollten gar keine radikalen Veränderungen, sondern ein etwas freieres, bunteres Land und vielleicht mal den Louvre in Paris besuchen.“ Er sei lange wütend und traurig gewesen, aus der Stadt vertrieben worden zu sein. „Plötzlich als die Wende – ein schreckliches Wort – kam, war alles anders. Ich bekam Ausstellungsangebote, aber ich konnte nicht“, erzählt Bahß. Heute kann er der Stadt sogar ein Geschenk machen.

Bei einer Ausstellung 2014 im Forum Gestaltung vermittelte dessen Geschäftsführer Norbert Pohlmann, begeistert von den Fotos, den Kontakt zum Museum. Direktorin Gabriele Köster verweist peinlich berührt auf den nicht vorhandenen Ankaufetat, wird beschenkt und sagt: „Ich nehme das Geschenk mit Dankbarkeit, Freude und Demut an. Diese Stadt hat das Geschenk, das ihr Dietrich Bahß macht, nicht verdient.“ Der Geber ist ergriffen, aber widerspricht: „Die Bilder gehören hierher.“ Beifall. Bahß – gefeiert, umringt. Er entzieht sich mit Verweis auf seine Sucht: „Erst mal eine rauchen.“ Dann inhaliert er tief vor der Museumstür, den Rauch und das Gefühl, für den Moment zurück zu sein.

Einige Fotos von Dietrich Bahß sind aktuell im Foyer des Kulturhistoristorischen Museums zu sehen.