Corona-Krise Balkonbesuche in Magdeburg
Die Schwestern Susanne Pick und Karla Staufenbiel aus Magdeburg können sich wegen des Coronavirus derzeit nur aus der Ferne sehen.
Magdeburg l Es dürfte dieser Tage vielen Familien, die sich nahe stehen, ähnlich gehen: Die Sehnsucht nach Enkeln, Nichten und Neffen, Töchtern und Söhnen, Eltern und Großeltern, die derzeit aufgrund der Coronavirus-Pandemie nicht so häufig besucht werden können, wächst und so manches Tränchen wird vielleicht auch fließen. Susanne Pick hatte schon immer ein enges Verhältnis zu ihrer Schwester Karla Staufenbiel. Sie selbst lebt mit ihrer Familie in Sudenburg. Die Schwester dagegen, die mit einem Gendefekt zur Welt kam, wohnt seit 2005 in einem Wohnheim der Lebenshilfe am Westring.
Früher hatte sie im Haushalt ihrer Schwester gewohnt. 13 Jahre lang kümmerte sich die heute 66-Jährige um ihre kleine Schwester, die inzwischen 61 Jahre alt ist. Die Verbindung ist nach wie vor da und vor Ort auch sichtbar. Aber durch die Corona-Krise ist eben doch einiges anders. Normalerweise kommt Susanne Pick ihre Schwester nämlich regelmäßig besuchen. Und alle zwei Wochen ist Karla Staufenbiel auch übers Wochenende zu Besuch bei ihr. Nachdem die Eltern gestorben waren, sah es Susanne Pick als ihre moralische Verpflichtung an, sich um die Schwester zu kümmern.
Erst als für Karla Staufenbiel eine Neuordnung anstand, entschied sie sich schweren Herzens, die Schwester mit deren Zustimmung in eine Einrichtung der Lebenshilfe ziehen zu lassen. Dort fühle sie sich wohl, könne in der Lebenshilfe-Werkstatt arbeiten, so dass die Entscheidung auch aus heutiger Sicht richtig gewesen sei.
Wenn die Schwester Urlaub hat, fährt die ältere aber nach wie vor mit ihr weg. Schon oft waren sie auf Rügen. Immer wieder fragt ihre Schwester nun, wann sie denn Urlaub habe und ob sie dann wieder wegfahren würden. Doch beantworten kann Susanne Pick diese Fragen nicht.
Seit der Corona-Krise ist alles anders: Die regelmäßigen Besuche finden nur noch von weitem statt. Dann stellt sich Susanne Pick in den Hof vor der Einrichtung, während ihre Schwester vom Balkon aus nach unten schaut. Ein paar wenige Worte werden ausgetauscht, immer wieder fragt Karla Staufenbiel, ob die Schwester sie besuchen kommt, ob sie sie abholen und mit zu sich nehmen will. Es ist schwer, der Frau mit Handicap bewusst zu machen, warum das öffentliche Leben aktuell weitgehend lahmgelegt ist – und auch Besuche bei Verwandten nicht möglich sind.
Die regelmäßigen Besuche fehlen beiden Schwestern. Doch vielleicht ist es für Susanne Pick sogar noch schwieriger. Schließlich sei die Schwester in ihrem häuslichen Umfeld, habe ihre Mitbewohner, Freunde und die gewohnte Umgebung um sich. Die andere Schwester aber vermisst die jüngere sehr: „Wenn Karla am Wochenende nicht da ist, fehlt einfach was“, sagt sie. Und so gehe es vielen anderen Familien, deren Kinder oder andere Verwandte in der Einrichtung betreut werden, wie Anja Böhme als Hausleiterin der Wohnstätten bestätigt.
„Für die Angehörigen und Eltern ist es sehr schwierig, die bei uns Betreuten nicht treffen zu können“, sagt Böhme. „Es war auch für mich und die Mitarbeiter ein Stich ins Herz, den Angehörigen und Betreuten sagen zu müssen, dass sie einander nicht besuchen dürfen“, sagt sie. Was Mutterherzen während dieser Zeit durchmachen würden, werde in der Öffentlichkeit wenig thematisiert. „Dabei müssen sie die Trennung ja auch aushalten“, sagt Böhme.
Für die Schwestern Susanne Pick und Karla Staufenbiel ist das Telefon zur Brücke geworden. „Sie hat ein Handy und nur eine Nummer abgespeichert, das ist meine.“ Es vergehe kein Tag, an dem nicht zwei bis drei Anrufe ihrer Schwester kämen, sagt Susanne Pick. „Was ich bei den vielen Telefonaten niemals höre, ist Traurigkeit“, sagt sie. Immer sei ihre Schwester fröhlich und motiviert.
Deshalb möchte Susanne Pick dem Team der Lebenshilfe Magdeburg, das hoch engagiert und kreativ Tagesabläufe und Programme für die Betreuten organisiere, ein großes Dankeschön aussprechen. „Die Mitarbeiter in den Wohnheimen leisten Großes, sie trösten, gestalten den Tagesablauf, geben Geborgenheit, ersetzen die Elternhäuser, fangen Emotionen auf und hören immer wieder die gleichen Fragen“, erzählt sie. Sie hat das Gefühl, dass es trotz des behördlich verordneten Abstands ein wirkliches Miteinander gibt und ihre Schwester gut aufgehoben ist, was in dieser Zeit besonders sichtbar werde.
Anja Böhme weiß, wenn es keine Tagesstruktur und keine Beschäftigung für Menschen mit Handicap geben würde, würden diese schnell abbauen. Deshalb gibt es diverse Angebote, die vom Basteln bis zum Sport an der frischen Luft reichen. „Wir machen mit ihnen alles, was man in einer normalen Familie auch machen würde“, sagt Böhme.
Der Wunsch von Susanne Pick lautet: „Bleiben wir alle miteinander zuversichtlich und voller Elan im Wirken für behinderte Menschen.“ Sie freut sich bereits auf den Tag, an dem sie ihre kleine Schwester wieder in die Arme schließen und mit nach Hause nehmen darf und endlich wieder Normalität einkehrt.