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Coronavirus Maskenpflicht macht mundtot

Wie Mundschutz und die Abstandsregel Gehörlosen und Schwerhörigen die Kommunikation in der Corona-Krise erschwert:

Von Karolin Aertel 31.05.2020, 01:01

Magdeburg l Zorn, Freude, Traurigkeit – die Mimik eines Menschen kann auch ohne Worte verraten, welch Empfindung einem Menschen inne ist. Es ist ihm quasi ins Gesicht geschrieben. Doch was, wenn Masken Mund und Mimik verdecken? Lippen nicht einmal mehr verraten, dass mit ihnen Worte geformt werden?

Was Hörenden die Kommunikation bereits deutlich erschwert, ist für Gehörlose ein echtes Problem. Oft erkennen sie nicht einmal, dass ein Mensch mit ihnen redet. Und wenn sie es erkennen, haben sie keine Ahnung, was ihr Gegenüber will. Hinter Masken und Tüchern scheint Lippenlesen schier unmöglich. Dann helfen nur noch Zettel und Stift. Eine Erfahrung, die Susi Müller jüngst in einer Bankfiliale machte.

Die 55-Jährige ist seit ihrer Kindheit taub. Als Dreijährige verlor sie infolge einer Gehirnhautentzündung ihr Gehör. Sie hat gelernt, mit ihrem Handicap zu leben, macht aber deutlich, dass sie auf den Willen zur Kommunikation und das Verständnis anderer angewiesen ist. In derart außergewöhnlichen Zeiten, wie sie derzeit Corona mit sich bringt, stößt das jedoch an seine Grenzen. Bei einem Banktermin gab sie der Mitarbeiterin zu verstehen, dass sie taub ist und bat sie, den Mundschutz abzunehmen, um ihre Lippen lesen zu können. Die jedoch weigerte sich und legte Zettel und Stift hin. Mühsam verständigten sie sich dann schriftlich. Eine Situation, wie sie Susi Müller immer wieder mal passiert. Doch viel schlimmer noch: Oft bekommt sie nicht einmal mit, dass jemand zu ihr spricht.

Als Gehörlose ist sie von der Mundschutzpflicht befreit. In Bus und Bahn sowie beim Einkaufen bindet sie sich dennoch ein Tuch um Mund und Nase. Weil die Menschen um sie herum ihr ja nicht ansehen können, dass sie taub ist und mit Unverständnis reagieren. Anders ist es bei Ingo Spaleck. Er ist erblich bedingt schwer hörgeschädigt. Ein sogenanntes Cochlea-Implantat auf der einen und ein Hörgerät auf der anderen Seite ermöglichen ihm – zumindest, wenn die Umgebungsgeräusche nicht überhandnehmen und, mit Blick auf die Abstandsregelung, die Menschen nicht zu weit weg sind - ein Stück weit das Hören. Und sie geben seinem Gegenüber einen Hinweis auf die Behinderung. Etwas, das den Alltag ein wenig erleichtert.

Dennoch weiß er um die Probleme gehörloser und schwerhöriger Menschen. Er ist nicht nur im Vorstand der Gehörlosengemeinschaft in Sachsen-Anhalt, sondern auch Dozent für lautsprachlich-begleitende Gebärdensprache an der Volkshochschule in Magdeburg. Und er ist das Sprachrohr einer Gemeinschaft, die darum kämpft, gehört zu werden. Denn die Probleme, die sich mit den CoronaBeschränkungen verstärken, gibt es schon viele Jahre. „Gerade in Behörden, Banken, in Pflegeheimen, bei Versicherungen und Ärzten sollte jemand zumindest die Grundlagen der Gebärdensprache beherrschen“, erklärt er.

Es dauere nur etwa ein halbes bis ein Dreivierteljahr sie zu lernen, erleichtert den Gehörlosen und Schwerhörigen das Leben aber ungemein. Es gebe seines Wissens nach 22 bestellte „Dolmetscher“ in Sachsen-Anhalt, die von Hörgeschädigten für Behördengänge etc. gebucht werden können. Dass sie zu den benötigten Terminen frei sind, kann nicht garantiert werden.

Und gerade erst sei er aus einem Seniorenheim gekommen. "Gut 80 Prozent der Menschen dort können sehr schlecht bis gar nicht mehr hören. Nicht einer, weder Pfleger noch Bewohner, kann aber die Gebärdensprache. Dabei wäre das etwas, das beiden Seiten bei der Verständigung helfen könnte und der Einsamkeit entgegenwirkt.“ Denn Einsamkeit ist etwas, unter dem Gehörlose und Schwerhörige sehr leiden – seit Corona noch um ein Vielfaches mehr als ohnehin.

Als die Kontaktsperre angeordnet wurde, konnten Hörende zumindest via Telefon Kontakt zur Außenwelt halten, Freunde und Familie anrufen, sich austauschen. Hörgeschädigten blieb dagegen lediglich die Videotelefonie. Doch viele von ihnen sind älteren Semesters, haben keine Ahnung von den technischen Errungenschaften, haben weder die Technik dafür noch das Verständnis. „Sie waren in den vergangenen Wochen völlig isoliert“, weiß Ingo Spaleck. Normalerweise organisiert der Verein Treffen, Reisen und Veranstaltungen, um den Mitgliedern die sozialen Kontakte zu ermöglichen. Mit Mimik, Gebärde und Mundbild können sich alle untereinander – als Sprachgemeinschaft, die sie sind – gut verständigen. Im Zuge der Pandemie musste nun alles abgesagt werden.

Die Enttäuschung darüber ist groß. Nicht nur, weil das Wiedersehen auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, auch, weil die Anstrengungen der Organisation verpufft sind. „Wir können nicht spontan irgendwohin“, erklärt Ingo Spaleck. „Wenn wir einen Ausflug machen, steckt ein enormer organisatorischer Aufwand dahinter. Wir müssen für Führungen beispielsweise Dolmetscher bestellen und haben viele Senioren, die besonders bedacht werden müssen“, so der 52-Jährige. Doch letztlich helfe alles nichts, und man müsse nun abwarten, wieweit die Lockerungen der Corona-Verordnung baldige Treffen wieder zulassen. „Am Ende haben wir die gleichen Sorgen, wie gesunde Menschen auch“, weiß er. „Nur, dass wir zusätzlich noch unsere speziellen Probleme haben.“