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DDR-Weihnachten Magdeburger Turmblasen auch mit Zensur

Oh du fröhliche Zensur: Dieter Käpernick ließ sich auch zu DDR-Zeiten nicht das Turmblasen von St. Ambrosius in Magdeburg nehmen.

Von Klaus-Peter Voigt 25.12.2018, 14:55

Magdeburg l Am Heiligen Abend greift Dieter Käpernick zur Posaune. „Oh du fröhliche…“ spielt er in der Christvesper von St. Ambrosius von Magdeburg. Zum Fest gehört das mehr als 200 Jahre alte Lied wie kaum ein anderes. Selbst auf dem Weihnachtsmarkt der Elbestadt erklang es ab 1970, gespielt vom Posaunenchor der Sudenburger Kirchgemeinde. Mit ihren ersten Auftritten dort sorgten dessen Mitglieder für ein Novum und nach der Premiere waren die Christen alljährlich „engagiert“. „Wir hatten anfangs nachgeholfen und bemühten uns ganz intensiv um diese Konzerte“, erinnert sich Dieter Käpernick.

Der 82-Jährige spricht von ein wenig Chuzpe, die in der DDR nötig war, um derart geistlich geprägte Musik auch öffentlich zu Gehör zu bringen. Er zeigt den ersten Programmzettel, den die zuständige Abteilung Kultur beim Rat der Stadt 1970 offiziell abgesegnet hatte. Gut die Hälfte der vorgeschlagenen Lieder wie „Gottes Sohn ist kommen“ fand bei den Verantwortlichen keine Gegenliebe. „Beim Abnahmegespräch habe ich trotzdem zustimmend genickt. Auf dem Weihnachtsmarkt spielte unser Posaunenchor letztendlich doch alle Titel“, berichtet der Tischlermeister mit einem verschmitzten Lächeln.

Für ihn hat der Posaunenchor einen wichtigen Platz im Leben. Einmal in der Woche erklimmt Dieter Käpernick die 120 Stufen im Turm der Magdeburger St.-Ambrosius-Kirche. Geschätzte knapp 4000 Mal nahm er sonnabends diesen Weg, um zum Wochenausklang von dort aus christlich Bläsermusik erklingen zu lassen. Im Stadtteil Sudenburg würde den Menschen rund um das Gotteshaus ohne diese Tradition etwas fehlen. Seit fast 90 Jahren wird sie gepflegt. „Es gab nur wenige Ausnahmen“, sagt der Musiker. Während des Zweiten Weltkriegs waren die Mitglieder des Posaunenchores als Soldaten eingezogen.

Dann schwiegen für wenige Wochen die Instrumente noch einmal 1956. Der DDR-Staat bemühte sich letztlich erfolglos, dem Gotteshaus seinen Ton zu nehmen. Ganz banal erwartet man die Anmeldung des Turmblasens. „Ich ging einfach zur zuständigen Polizeidienststelle und ließ das Turmblasen als Auftritt in der Öffentlichkeit allwöchentlich genehmigen. Irgendwann gab es den notwendigen Stempel gleich für längere Zeiträume“, erläutert Käpernick. Da der Platz vor der Kirche kommunales Gelände ist, half nach festlichen Gottesdiensten ein pfiffiger Trick, um die Bläsermusik zur Verabschiedung der Besucher weithin erklingen zu lassen. Die evangelischen Christen öffneten die Türen ihres Gotteshauses weit. Das wirkte wie ein Schalltrichter.

Nach 1989 wäre der sonnabendliche Brauch des Turmblasens beinah auf der Strecke geblieben. Zu viele der Mitglieder des Posaunenchores hatten die Stadt verlassen oder ihr Musikinstrument an den berühmten Nagel gehängt. Für das Sudenburger Urgestein mit seinem wallenden grauen Haar kam das nicht infrage. Zehn Jahre lang agierte er als Solist, Woche für Woche, gab nicht auf.

Dass er bis heute trotz seines hohen Alters gut zu Fuß ist, das versteht sich so von selbst. Man könnte meinen, das Bläsertalent wurde ihm in die Wiege gelegt. Vater Werner Käpernick gehörte schließlich zu den Gründungsmitgliedern des Posaunenchores von St. Ambrosius, zu dem sich im März 1930 fünf Herren zusammenfanden, um gemeinsam zu musizieren. Gemeinde und Konsistorium finanzierten, damit war unter anderem der Kauf der ersten Instrumente möglich. Gut ein halbes Jahr dauerte es, bis am Vorabend des Buß- und Bettages zum ersten Mal vom Kirchturm geblasen wurde.

1933 begann die Gleichschaltung von Vereinen im Sinne des sogenannten Dritten Reichs. Für viele Posaunenchöre bedeute das ein vorläufiges Ende. In St. Ambrosius gehörten die Bläser direkt zur Gemeinde, das rettete sie vor Einflüssen des Staates. 1946 beendete Käpernicks Vater, inzwischen Chef der kleinen Gruppe, die kriegsbedingte Zwangspause.

Bis Anfang der 1950er Jahre erlebte sie einen wahren Boom. Bis zu 30 Mitglieder machten gemeinsam Musik. 1955 übernahm Dieter Käpernick, der mit neun Jahren zum ersten Mal zur Posaune gegriffen hatte, nach dem Tod seines Vaters die Leitung. Er erlebte seitdem Höhen und Tiefen. Nachdem die ersten Auftritte auf dem Weihnachtsmarkt zu DDR-Zeiten absolviert waren, entschieden sich die Bläser für einen scheinbar verrückten Schritt. Sie legten alle Prüfungen ab, um als anerkanntes Volkskunstkollektiv unterwegs sein zu können und mit staatlicher Billigung offiziell auch im nichtkirchlichen Raum gegen einen kleinen Obolus auftreten zu können. Die Honorare gingen oft direkt an soziale Einrichtungen.

Käpernick ist stolz darauf, sich das Posauneblasen autodidaktisch komplett selbst beigebracht zu haben. Im Keller wurde unermüdlich nach Schallplattenklängen geübt. Fünf Jahre Akkordeonunterricht kamen dazu und in den 1970er Jahren ging der „Verrückte“ sogar zur Magdeburger Musikschule. Dort erlernte er ein weiteres Instrument; das Saxofon. Sein Wunsch war es, ab und an auch zum Tanzen aufzuspielen und so war der christlich geprägte Posaunenbläser sogar in einer Bigband zu hören.

„Musik baut mich in schwierigen Lebenslagen stets wieder auf“, zieht der rastlose Magdeburger Bläser Bilanz, spricht in diesem Zusammenhang von beruflichen Problemen im eigenen Handwerksbetrieb und sehr persönlichen Einschnitten. Es fällt ihm nach wie vor schwer, über den unerwarteten Tod seines Sohnes Heiko vor zweieinhalb Jahren zu reden. Auf dessen Beerdigung gab es vom Vater einen letzten Gruß mit dem Blasinstrument. Mit Ehefrau Christa hat er den Verlust noch nicht verwunden. Geblieben ist beiden der zweite Sohn Guido, der in Magdeburg eine eigene Musikschule betreibt.

Käpernick schüttelt bei der Frage zum kirchenmusikalischen Nachwuchs den Kopf. „Seit 1989 schrumpfte unsere Gruppe, bis dahin waren wir immer mindestens ein Dutzend Bläser“, lautet die ernüchternde Bilanz. 80 von ihnen hat er im Laufe der Zeit selbst ausgebildet, trotzdem sei es gerade noch ein Trio, das heute die Fahnen hochhält. Da gehören gemeinsame Auftritte wie früher zum Advent in Krankhäusern oder am Heiligen Abend im Magdeburger Hauptbahnhof, zu dem sich Posaunenspieler aus der ganzen Stadt zusammenfinden, eher zu den Ausnahmen. Der Chorleiter zeigt sich jedoch optimistisch. Trübsal gehört zu den Arrangements, die ihm nicht liegen. Weihnachten ist schließlich ein Fest der Freude und der Hoffnung.

Dieter Käpernick ist sonnnabends um 18 Uhr vom Turm zu hören.