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Open-Air-Festival Was vom Woodstock-Spirit übrig blieb

Am 15. August vor 50 Jahren begann in Bethel im Bundesstaat New York das Woodstock-Festival, das auch in Magdeburg nachwirkt.

13.08.2019, 23:01

Magdeburg l Es gibt sie noch, diese Läden, die schon mit ihrem Namen in der Tradition des Woodstock-Festivals und der Hippie-Bewegung stehen. Auch in Magdeburg. Da gibt es das Flower-Power als Bar am Hasselbachplatz, in der sich zu fortgeschrittener Stunde, wenn die übrigen Kneipen nach und nach schließen, unterschiedlichste Leute treffen, um die Partynacht noch ein wenig zu verlängern. Im Missis Hippie an der Arndtstraße wird noch heute Mode gehandelt, die an die 60er und 70er Jahre erinnert. Und dann gibt es den Plattenladen an der Friesenstraße, der sogar nach dem Festival benannt ist, das morgen vor 50 Jahren seinen Auftakt nahm und die Welt irgendwie freier machte. Es war der Gipfel der Hippie-Bewegung in den USA, Tausende strömten in jenen Tagen nach Bethel bei Woodstock, kilometerlange Staus waren die Folge. Doch trotz chaotischer Bedingungen blieb es dem Motto „Drei Tage Frieden und Musik“ treu.

Wer den Plattenladen von Winfried Ebert betritt, riecht den Duft von Räucherstäbchen, die Decken und Wände sind mit Tüchern in Mandala-Optik abgehängt, asiatisch anmutende Lampenschirme werfen spärliches Licht in den Laden, in dem an diesem Morgen die Rolläden noch heruntergelassen sind. An den Wänden Poster von Pink Floyd, Jimi Hendrix und Jim Morrison, in den Plattenkästen so mancher Klassiker jener Zeit. Winfried Ebert ist 62. Und auch wenn sein Haar inzwischen licht ist, den langen Pferdeschwanz trägt er noch immer. Dass die Vinylindustrie seit einigen Jahren wieder im Trend liegt, „ist gesteuert“, vermutet er, denn CDs hätten sich irgendwann nicht mehr verkauft.

Heute gebe es Musik im Überfluss – aus aller Welt. Damals sei das anders gewesen, erinnert sich der gebürtige Quedlinburger. In der DDR an Platten heranzukommen, sei schwierig gewesen. Er hatte einen Freund, dessen Oma „rüber durfte“ und stets einen musikalischen Wunschzettel des Enkels mitnahm. Wenn Winfried Ebert in dessen Plattensammlung stöberte, war er erstaunt. Er hingegen musste sich mit dem begnügen, was der Plattenring so weiterreichte und überspielte es auf Tonband. Seine Begeisterung für jene Jahre hinge mehr mit der Musik zusammen als mit dem Festival, von dem er recht wenig mitbekommen habe oder erst viel später. Und er schwärmt von 20 Minuten langen Stücken, die schon ab Mitte der 70er Jahre mit dem aufkommenden Glamrock wieder aus der Mode geraten seien. Und Drogen. Die seien den Platten regelrecht anzuhören.

Als Hunderttausende am anderen Ende der Welt im Love-and-Peace-Wochenende versanken, galt für Musiker Friedhelm Ruschak, der später die Band Juckreiz gründete, in Zeiten des Prager Frühlings höchste Gefechtsbereitschaft. Als junger Soldat in Oranienburg und Berlin stationiert, schlief Ruschak mit Maschinengewehr und im Kampfanzug. „Es konnte jederzeit der Marschbefehl kommen“, sagt er. Frieden, das hat er sich damals vielleicht gedacht, doch von der Außenwelt bekam er fast nichts mit.

„Wir hatten kleine Kofferradios, mit denen haben wir mal heimlich gehört, aber das war wirklich gefährlich“, erinnert er sich. Zurück in seinem alten Leben habe er erst einmal aufarbeiten müssen, was sich auf dem anderen Kontinent ereignet hatte. Und er war infiziert. Standardkleidung jener Jahre wurden Jeans, „die wurden gehegt und gepflegt, und sie durften unten auf keinen Fall abgestoßen sein, und Shell-Parka, am besten mit Einschussloch“, dazu der sogenannte Hirschbeutel, „aus dem immer eine Flasche Rotwein guckte“.

Eigentlich hatte für Ruschak alles aber schon viel früher begonnen: mit einer Sendung im West-Fernsehen. „Da sah ich, wie vier Mädchen aus einem Flugzeug stiegen und alle anfingen zu kreischen. Nur dass das nicht vier Mädchen, sondern die Beatles waren“, erzählt er. Für den junge Ruschak sei Schule von da an gelaufen gewesen – und im recht toleranten, aber eben doch bürgerlichen Elternhaus knirschte es so manches Mal zwischen Vater und Sohn, wenn der eine im Fußball aufging, während der jüngere die Rolling Stones aufdrehte. Unvergessen Jimi Hendrix mit der zerrissenen amerikanischen Nationalhymne, die Ruschaks Band bis heute noch hin und wieder bei Gigs spielt.

Seinem Gefühl nach machte damals selbst die DDR einen kleinen Wandel durch. Beim Internationalen Jugendtreffen in Berlin lebte der „Love-and-Peace“-Gedanke auf. „Da wurde sich über alle Nationalitäten hinweg gepaart“, erinnert er sich. Froh ist Friedhelm Ruschak, dass es Drogen in der DDR nicht gab, „sonst wäre ich wahrscheinlich auch Patient geworden“.

Der Geist von Woodstock, den Ruschak auch in der Friedensbewegung sieht, den gebe es auch heute noch. In der „Datsche“ an der Karl-Schmidt-Straße zum Beispiel, wo Ruschak hin und wieder Konzerte besucht. Auch das Doors-Festival in Heyrothsberge erinnert ihn an jene Zeit. Und Ruschak ist überzeugt: „Wer sich einmal darauf eingelassen hat, wird den Geist jener Zeit ein Leben lang nicht mehr los.“ Inzwischen stöbert die Enkelin des 71-Jährigen in seinen Plattenschränken und zieht Vinyl mit Janis Joplin und anderen Größen der 60er und 70er aus dem Schrank. Doch Ruschaks Motto lautet: „Never look back.“ Im Geist jener Zeit schwelgen, das gebe es nicht.

Ganz anders bei Detlef Pickut. Er guckt sich heute noch gern Videomitschnitte jener Zeit an. „Als das Internet aufkam, mit Youtube, da habe ich meine Jugend noch mal erlebt“, sagt der 67-Jährige. Mit dem Gitarrespielen hat er erst im Ruhestand so richtig angefangen: „Das hilft mir, die viele freie Zeit zu erschlagen.“ Bei den Jamsessions im „Nachdenker“ gehört er inzwischen trotz des großen Altersunterschiedes dazu. Und dort „ist immer Woodstock, auch wenn die jungen Leute andere Musik spielen – der Spaß an der Musik, viele unterschiedliche Menschen“, all das erinnert ihn an seine Jugend.

Und dann schweifen seine Gedanken zurück zum Café Impro und dem Haus Junger Talente, wo er zum ersten Mal „mit einem Mädel getanzt“ hat. Als Joe Cocker starb, habe er geweint. Und auch der Tod von Neill Young werde ihn tief bewegen. Viel mitbekommen von Woodstock habe er damals nicht – vieles sei „Insiderwissen“ gewesen, „die Mauer war damals ganz schön hoch“.

Einer, der Jamsessions etwa im Stübchen in der Festung Mark mitbelebt, ist Gitarrist Sebastian Szibor. Woodstock sei für ihn natürlich ein Begriff, aber er stehe eher in der Tradition des Blues, erzählt er. Der Spirit habe dennoch etwas für sich: der Ruf nach Veränderung, den wohl jeder befürwortet und was nie aufhören sollte, wie er findet, „die damit verbundene Bewegung gegen Kriegspolitik, die wir heute noch kennen“. „Und das Chaos, das geherrscht haben muss, das kennen wir heute auch, wenn man irgendwo hinkommt und nichts aufgebaut ist.“ Dass ein paar junge Leute den Idealismus hatten und die Naivität, es einfach zu machen, das fasziniert ihn ebenfalls. „Hut ab vor, denen die es möglich gemacht haben.“

Gitarrist Charlie Ludwig ließ in jenen Jahren die Anzughosen seines Vaters und Großvaters vom Saum bis zu den Knien auftrennen und breite Dreiecke in bunten Farben und Mustern einsetzen, damit sie zu Schlaghosen wurden. Etwas mitbekommen von Woodstock habe er damals nicht, da lebte er noch in Bad Düben. Radio Rias hätte er empfangen, aber mit sehr schlechter Qualität – „das hat gefiept und gerauscht“. „Aber wir haben uns alle ein bisschen als Hippies gefühlt“, erinnert er sich. Mit den langen Haaren war das bei ihm so eine Sache. „Ich habe immer von einer Matte geträumt“, doch die Haare wuchsen nicht gänzlich in die Länge. Und so habe er sich auch mit Bürgerrechtlerin Angela Davis vergleichen lassen müssen, erzählt er schmunzelnd.

Jahrgang 1955, lernte er erst mit 16 Jahren die ersten Akkorde auf der Gitarre – aber dann war es um ihn geschehen. Seit 1986 hat er seine eigene Band: Charlies Crew. Ob er den Geist jener Zeit heute noch spürt? „Manchmal, wenn ich eine junge Truppe sehe, die entweder etwas völlig Verrücktes spielt oder aber sich die Musik von damals vornimmt.“ Ansonsten habe er den Eindruck, dass früher die Mehrheit der Jugendlichen rebellisch gewesen sei, heute sei es genau andersherum. Und bei heutigen Festivals gehe es mehr um den Spaß, weniger um eine politische Botschaft. Festivals habe es zudem schon vor Woodstock gegeben, erinnert er. „Bei Woodstock war aber einfach die Zeit reif, und dann sind da mal 500 000  Leute hingegangen“, sagt Ludwig. Jimi Hendrix ist bis heute eines seiner Idole. Und einige Hits von damals hat Charlie Ludwig mit seiner Band auch heute noch im Programm.

Politisches Denken und musikalische Gestaltung seien untrennbar miteinander verbunden, auch heute noch, findet dagegen Michael Conrad. Er ist 39 und als Chef der Insel der Jugend an der Maybachstraße führt er fort, was in den 60er Jahren und mit Woodstock seinen Anfang nahm: der Jugend Freiheit und kulturelle Freiräume zu geben. Mittwochs und an den Wochenenden kommen unterschiedlichste Leute. Politisch wird es dann durchaus auch: Vor der Einrichtung fand beispielsweise Anfang des Jahres eine Sitzblockade gegen eine Demo von Rechtsgesinnten statt, die die Insel der Jugend unterstützt habe.

Gewaltlose Aktionen gegen Rechts würde er sich auch von anderen Einrichtungen wie dem Opernhaus oder dem Theater wünschen. Stolz scheint er, dass die Insel der Jugend es neben der Datsche und der Kunstkantine geschafft hätte, sich ohne Förderung zu finanzieren. Zwar sei Förderung auch eine Anerkennung, aber man laufe dann Gefahr, sich einengen zu lassen.

Was sich Michael Conrad wünscht, ist Toleranz gegenüber der jüngeren Generation, die früher gern zu Woodstock gegangen wäre: Was damals die Rockmusik war, sei heute Techno. Und ebenso, wie einst die Eltern oder Großeltern über den Gitarrensound der wilden 60er schimpften, hat jene Generation heute Schwierigkeiten mit elektronischer Musik. Und gibt es den Spirit jener Zeit noch? Mit dem Fusion-Festival und dem 3000-Grad-Festival arbeitet Conrad zumindest „für eine Menge Leute, die den Spirit von Woodstock noch umsetzen“.