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Straßenmusik Cellist zwischen Brücke und Bahnhof

Der Magdeburger Cellist Matthias Marggraff schafft es, mit Straßenmusik seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Von Christina Bendigs 15.02.2017, 00:01

Magdeburg l Im Sommer auf der Sternbrücke, im Winter hinter dem Hauptbahnhof: Der Straßenmusiker Matthias Marggraff dürfte vielen Magdeburgern als Prypjat Syndrome bekannt sein. Die Volksstimme traf den Lebenskünstler, der am heutigen Mittwoch sein neues Album herausgibt.

Irgendwie ist er immer ein bisschen bescheiden: Zwar hat Matthias Marggraff alias „Prypjat Syndrome“ eine klassische Celloausbildung genossen und ist seinen Eltern dafür mehr als dankbar, „aber eigentlich kann ich gar nicht Cello spielen“, sagt er. Klassische Musiker würden bei seiner Bogenführung die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, in Notenlehre sei er auch nie besonders gut und ein sehr wechselhafter Schüler gewesen – mal besser, mal schlechter.

Dennoch hat er das Cello als seine Leidenschaft entdeckt. Und die Klänge, die er seinem Instrument über technisches Equipment entlockt, treffen den Geschmack der Zuhörer, so dass der einstige Straßenmusiker inzwischen gebucht wird und seinen Lebensunterhalt mit Musik bestreiten kann. Ursprünglich hatten seine Eltern ihn für Geige angemeldet. „Aber heute bin ich froh, dass es am Ende das Cello geworden ist.“

Das erste Mal, dass Matthias Marggraff auf der Straße Musik gemacht hat, sei 2011 in München gewesen. „Natürlich auch, weil ich Geld brauchte und ich irgendwas machen musste. Aber es hat vor allem Spaß gemacht“, erzählt er. „Wenn man es nur des Geldes wegen macht, kann man eigentlich einpacken“, ist er überzeugt.

Als er anfing, sich als Straßenmusiker zu verdingen, war seine Verwandtschaft nicht gerade begeistert. Auch seine Eltern fanden es „nicht besonders sexy“. Sein Vater hätte lieber gesehen, er wäre in seine Ingenieurs-Fußstapfen getreten. Aber Matthias Marggraf zog sein Ding durch. Und heute akzeptieren seine Eltern, was er macht, unterstützen ihn: „Meine Mutter ist mein größter Supporter.“

Zwar hatte er eine Ausbildung zum Bürokaufmann abgeschlossen, „aber es schien damals alles irgendwie aussichtslos“. Und eigentlich sei der Bürokram ohnehin nichts für ihn. „Ich wollte immer Musik machen. Und ich konnte auch nichts anderes“, sagt er.

Das Leben als Musiker passe auch besser zu seinem Lebensrhythmus als ein Bürojob. Denn sein Tagesablauf ist anders als der eines Büroangestellten. „Meistens stehe ich erst gegen 11 Uhr auf“, verrät er. Doch dann wird geackert – sei es nun, indem er mit neuer Technik oder neuen Saiten experimentiert, Buchungsanfragen beantwortet, CDs verschickt oder indem er einfach spielt oder auftritt. „Ich mache immer irgendwas. Pause habe ich nur, wenn ich schlafe.“

Dabei genießt der Musiker die Ruhe der Nacht. „Mein Fenster ist das letzte, in dem Licht brennt“, sagt er. „Nachts barfuß in Stadtfeld auf der Straße zu laufen, und kein Auto kommt, das ist purer Luxus“, sagt er. Überhaupt ist Matthias Marggraff gern zu Fuß unterwegs. 30 Kilometer zu gehen, sei für ihn kein Problem. Ein Sportler sei er deshalb aber noch lange nicht – wohl aber gesundheitsbewusst. Fast schon schlaksig wirkt der 29-Jährige, der ein richtiger Gesundheitsfreak ist.

Während andere sich „lowcarb“ ernähren, also so wenig Kohlenhydrate wie möglich zu sich nehmen, lebt der Cellist „highcarb“. Marggraff: „Man muss sich wahrscheinlich entscheiden: Kohlenhydrate oder Fett.“ Marggraff hat sich für Kohlenhydrate entschieden, „von Obst wird man nicht dick“.

Seine Ernährungsweise spiegelt sich auch im Titel seines neuen Albums „Carbohydrates“ (Kohlenhydrate) wider, das am Mittwoch auf den Markt kommt. Es ist bereits sein neuntes, das in 500er Auflage erscheint. Etliche Anfragen habe er schon per E-Mail bekommen – aus Deutschland sowieso, aber erstmals auch aus Italien, Ukraine, Russland und sogar Japan. Seine Stücke sind ausschließlich improvisiert. „Das ist wie ein Sandwich, auf das man immer neue Schichten legen kann.“

Und so klopft er mit einem Trommelstick zunächst einen Rhythmus auf dem Körper des Cellos, legt darauf einen weiteren, den er mit den Händen auf den Saiten klopft, spielt dann eine Melodie mit dem Bogen dazu und erzeugt so nach und nach eine ausgefüllte, fast sphärische Klangwelt. Seinen eigenen Musikstil beschreibt er als „Progressive Cello Punk Drone Ambient“ und vereint darin auch die Musikrichtungen, die ihm gefallen – Jazz, Punk, Drone, Ambient. Ein eigenes Album in den Händen zu halten, „das ist schon ein geiles Gefühl“.

Musik ist aber auch eine Sammelleidenschaft von ihm – anders als andere hat er jedoch nicht Schränke voll CDs oder Schallplatten, sondern sammelt seine Lieblingsmusik in Terrabites auf Festplatten. „Der Tonträger ist vielleicht etwas ungewöhnlich“, sagt er schmunzelnd.

Und noch etwas anderes sammelt Matthias Marggraff aktuell: Die Verpackungen von alten Orwo-Tonbändern und leere Klopapierrollen. Entsprechend sehe es aktuell in seiner Wohnung aus. „Ich habe schon lange die Idee, daraus mal eine originelle CD-Verpackung zu machen, vielleicht für ein Album in limitierter Auflage“, erzählt er. Was ihm noch fehlt, ist jemand, der eine CNC-Fräse besitzt und ihm aus Holz die Halterung für eine CD herausfräsen kann.

Grundsätzlich ist Marggraff aber jemand, der selbst aktiv wird. Seine ersten CDs hat er allein gebrannt. Zu Hunderten. Auf dem heimischen Computer. „Ich bin froh, dass der Brenner das durchgehalten hat.“

Wohin ihn die Musik noch bringen wird, ist ungewiss. Nur eines weiß er: „Ich werde immer Musik machen, bis zum Ende meines Lebens.“ Die Straßenmusik wird dabei Teil seines Schaffens bleiben. Ab März wird man ihn wieder auf der Sternbrücke treffen – je nach Wetterlage. Mit dem ein oder anderen Passanten kommt Marggraff dann auch ins Gespräch: „Manchmal komme ich mir vor wie der Brückenpsychologe.“ Aber das macht es auch interessant, „denn irgendwie haben alle ihre Probleme“. Und wenn er nach einer längeren Straßenmusik-Session nach Hause kommt und wieder ein paar E-Mails hat, freut er sich einfach.

Viele würden ihn um sein scheinbar unbeschwertes Leben beneiden, das allerdings auch seine schwierigen Seiten hat. Matthias Marggraff aber genießt es in vollen Zügen – ein anderes Leben, mit Familie und einem geregelten Berufsalltag, das wäre nichts für ihn.

Selten, aber hin und wieder, wird er auch auf seinen ungewöhnlichen Künstlernamen „Prypjat Syndrome“ angesprochen – warum er ihn hat, kann er gar nicht so recht beschreiben.

Prypjat ist eine Stadt in der Ukraine, die im Zusammenhang mit dem Bau des Atomkraftwerkes Tschernobyl gegründet und im Zuge des Reaktor-Unglücks von 1986 geräumt wurde. „Der Name ist schon politisch, es hat auch was mit Ostblock-Charme zu tun, der mir einfach gefällt, aber ich gehe damit nicht hausieren.“

Aus seiner politischen Einstellung macht er keinen Hehl: „Ich habe eine linke Einstellung und einen kommunistischen Background, mit allem, was rechts ist, habe ich nichts am Hut.“ Und wenn er auch ein wenig wie ein Einzelgänger wirkt, ist er es doch auch wieder nicht, sagt er, zumindest nicht freiwillig. Marggraff ist wie die ungewöhnliche Schreibweise seines Nachnamens: speziell.