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Verkehr Wenn Autos in Magdeburg Schienen kreuzen

Wenn Autofahrer in Magdeburg Straßenbahnfahrer zum Bremsen zwingen, können sich Fahrgäste in der Bahn sogar verletzen. Eine Testfahrt.

Von Franziska Ellrich 11.12.2017, 15:01

Magdeburg l Erst drei Minuten unterwegs und schon zum zweiten Mal muss Straßenbahn-Fahrlehrer Kristian Mielke in Magdeburg ungeplant abbremsen. Erst tritt ein Autofahrer neben der Straßenbahn aufs Gas, um sich auf der Linksabbiegerspur in der Otto-von-Guericke-Straße noch schnell vor der Bahn einzuordnen. Nur wenige Hundert Meter weiter rennt ein Fußgänger knapp vor der Straßenbahn über die Schienen.

Kristian Mielke reagiert ruhig, verringert routiniert die Geschwindigkeit. „Fahren kann jeder, aber bremsen eben nicht“, weiß Mielke aus Erfahrung. Seit drei Jahren ist er als Lehrer im Fahrschulwagen der Magdeburger Verkehrsbetriebe (MVB) unterwegs.

Angekommen an der Kreuzung zur Danzstraße stehen neben den Schienen mehrere Warnbaken in Reih und Glied. Einige Möglichkeiten zum Linksabbiegen wurden auf der Otto-von-Guericke-Straße in den letzten Monaten wegen der veränderten Streckenführung der MVB-Bahnen in Absprache mit der Stadt Magdeburg gesperrt. Aufgrund der kompletten Sperrung der Ernst-Reuter-Allee für den Tunnelbau müssen mehr Linien als einst geplant über die Otto-von-Guericke-Straße geleitet werden.

Damit der Bahnverkehr auch fließen kann, wurden die Linksabbieger-Pfeile auf dem Boden überklebt und die Baken aufgestellt. Kaum hat der Fahrschulwagen die Kreuzung passiert, biegt dahinter jedoch trotzdem ein VW-Fahrer links ab.

Auf Höhe der Haeckelstraße tauchen dann in leuchtendem Orange die neuen Poller zwischen den Schienen auf. Sie sollen die Autofahrer vom Wenden abhalten. Auf dem angehobenen Bahnkörper ist das regulär sowieso verboten. Doch offensichtlich stört das einige nicht. „Mindestens zehn dieser Poller mussten wir bereits ersetzen, weil sie umgefahren worden sind“, sagt Sebastian Wolf.

Der MVB-Bereichsleiter Aufsicht ist bei der Volksstimme-Testfahrt mit an Bord. Und hat eine erschreckende Zahl in Sachen Unfälle mit Linksabbiegern parat: Seit April 2017 musste die MVB eine Strecken-Sperrzeit in Höhe von knapp zehn Stunden in Kauf nehmen, allein aufgrund von Unfällen mit Pkw-Fahrern, die links abbiegen wollten – und dabei der Straßenbahnen auf den Schienen in die Quere kamen.

Fakt ist: Von 101 Unfällen, in die MVB-Fahrer in den vergangenen Monaten verwickelt waren, lag nur drei mal die Schuld bei den MVB-Fahrern selbst.

Hohe Unfallgefahr bestehe allerdings nicht nur dort, wo das Abbiegen erst gar nicht erlaubt ist, sondern auch da, wo die Autofahrer auf die Linksabbiegerspur wechseln. Das Problem: Auf dieser Fahrspur verlaufen oft auch die Bahnschienen und „täglich müssen unsere Fahrer schnell reagieren, weil die Autofahrer nicht in den Spiegel schauen“, kann Sebastian Wolf aus jahrelanger Erfahrung berichten.

Bestes Beispiel sei der Unfallschwerpunkt Lübecker Straße. Selbst wenn die Autofahrer minutenlang vorher neben der Straßenbahn hergefahren seien, würden sie im Moment des Spurwechsels die großen Fahrzeuge „übersehen“.

Kristian Mielke hat die anderen Fahrspuren immer im Blick und kann deswegen auf der Testfahrt wiederholt eine Gefahrenbremsung vermeiden. Wichtig dabei zu wissen: Der Bremsweg einer Straßenbahn ist viel länger als der eines Autos.

Bei einer Geschwindigkeit von 50 Kilometern pro Stunde könnten es bis zu 125 Meter werden, nach denen die Bahn erst zum Stehen kommt, erklärt MVB-Betriebsleiter Sebastian Wolf. Der Grund: „Die Bahn hat eine andere Haftreibung.“ 35 Tonnen Metall auf Metall würden ganz anders reagieren als die Gummireifen eines Autos auf Asphalt. Kristian Mielke spricht vom dreifachen Bremsweg im Gegensatz zum Auto.

Ist eine Gefahrenbremsung unausweichlich, muss der Straßenbahnfahrer den Steuerknüppel, also den sogenannten Sollwertgeber, ganz nach hinten durchziehen. Dadurch würden alle Bremssysteme automatisch ausgelöst, erklärt der Fahrlehrer. Und demonstriert auf der Test-Fahrt, was dann passiert: Die Warn-Glocke springt an, Sand wird auf die Schienen abgegeben und große Elektromagnete pressen sich auf die Schienen, um durch die Reibung den Bremsweg zu verkürzen.

Als Fahrgast verspürt man einen starken Ruck. Umso langsamer die Straßenbahn unterwegs ist, umso härter fühlt es sich an. Die Gefahr, dass ein Fahrgast stürzt und sich verletzt, sei bei langsameren Geschwindigkeiten größer, macht Betriebsleiter Wolf deutlich.

Warum das so ist: „Ist die Straßenbahn kurz vor der nächsten Haltestelle langsam unterwegs, stehen die Fahrgäste bereits auf und halten sich nicht mehr fest.“ Anders sehe das bei hohen Geschwindigkeiten aus.

Wolf: „Die Fahrer müssen immer abwägen, bremse ich leichter und gehe dadurch die Gefahr ein, einen Unfall zu bauen oder riskiere ich mit einer Gefahrenbremsung, dass Fahrgäste stürzen und sich dabei verletzen.“

Erst im Oktober blieb einem Straßenbahnfahrer auf dem Breiten Weg aufgrund eines überraschenden Wendemanövers nur die Gefahrenbremsung übrig. Auf Höhe der Kepplerstraße prallte die Bahn mit einem VW zusammen. Eine 85-Jährige ist dabei in der Bahn gestürzt und hat sich an der Hand verletzt.

Nächster Halt: Hasselbachplatz. Kristian Mielke ist auf den viel befahrenen Verkehrsknotenpunkt vorbereitet. Trotz Kreisverkehrregelung hat die Straßenbahn hier Vorfahrt. Der Fahrlehrer tastet sich langsam vor. Denn nicht selten würden Autofahrer an dieser Stelle die Bahnen ignorieren. Dabei stehen vor den Schienen die roten Vorfahrtsschilder mit dem Straßenbahnsymbol darüber.

Denn: „Schienengebundene Fahrzeuge haben Vorrang“, zitiert Sebastian Wolf die Verkehrsregel. Ein Einzelner am Steuer müsse eben für Dutzende Fahrgäste in einer Straßenbahn zurückstecken. In einer voll besetzten Bahn haben mehr als 200 Personen Platz.

Nur wenig später der nächste Knackpunkt: Sternstraße. Dort hat die Bahn beim Linksabbiegen in die Planckstraße Vorfahrt. Der Fahrer des Autos, das sich auf der Gegenfahrbahn nähert, muss halten. Funktioniert.

Kurz dahinter stehen rund um das Haltestellenhäuschen Schüler, die auf die nächste Bahn warten. Es ist gegen 15 Uhr, der große Andrang bereits vorbei. Hunderte Schüler aus den Schulen in der Hegelstraße steigen dort täglich ein und aus. „Hier müssen die Fahrer ganz besonders aufmerksam sein. Es kann immer passieren, dass Schüler schnell noch über die Gleise angerannt kommen“, sagt Kristian Mielke.

Nur eine Kurve später wird deutlich: Straßenbahnfahrer müssen offenbar immer bremsbereit sein. Auf der Schönebecker Straße wird es knifflig. Dort wird gerade gebaut und eine Spur fällt für die Autofahrer in Richtung Buckau weg. Sie müssen sich die übrig gebliebene Spur mit der Straßenbahn teilen.

Schilder weisen rechtzeitig darauf hin. Ein BMW-Fahrer ist damit offensichtlich nicht einverstanden. Er kommt von hinten angerast, zieht kurz vor der Absperrung auf die linke Spur und fädelt sich vor der Straßenbahn ein.

Ein typischer Fall, in dem es auch hätte zu einer Gefahrenbremsung kommen können. Mehrmals jährlich werden die Straßenbahnfahrer geschult und üben die Bremsmanöver. Im regulären Dienst gehen die MVB-Fahrer nach jeder Gefahrenbremsung durch die Bahn und sichern sich ab, dass niemand verletzt ist. Zusätzlich gibt es immer eine schriftliche Meldung.

Neben der großen Sorge, dass bei so einer Bremsung ein Fahrgast stürzt, ärgert man sich bei der MVB auch über die Folgen: Die Unfälle seien immer auch mit Wartezeiten und/oder Umleitungsstrecken verbunden, macht Sebastian Wolf deutlich.

Doch wie können solche Gefahrensituationen zwischen Pkw und Bahn vermieden werden? An erster Stelle sei entscheidend, dass sich die Pkw-Fahrer an die Verkehrsregeln halten. An einzelnen Punkten sollte das möglicherweise durch die Polizei stärker kontrolliert werden.

Andererseits werden die neuen MVB-Strecken gleich auf einem eigenen Gleiskörper verlegt, so dass die Autofahrer die Schienen gar nicht kreuzen können. Doch das sei nicht überall möglich, macht Sebastian Wolf aufmerksam. Denn Überfahrten müssten für Rettungskräfte an einzelnen Stellen weiterhin möglich sein.

Endstation am Buckauer Wasserwerk: Kristian Mielke lässt einen unaufmerksamen Autofahrer noch an der Bahn vorbeiziehen, bevor er die Türen für den Ausstieg öffnet. Der Fahrlehrer muss seinen nächsten Schüler einsammeln, die Volksstimme steigt hier aus.