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Zwangsehe Gewalt im Namen der Ehre

Sozialarbeiterinnen in Magdeburg helfen Frauen bei der Flucht vor der eigenen Familie.

Von Franziska Ellrich 28.03.2017, 01:01

Magdeburg l Frauen, die zur Heirat gezwungen werden sollen. Frauen, die geschlagen und kontrolliert werden, um die Ehre der Familie zu bewahren. Um sie kümmert man sich bei der Fachstelle Vera in Magdeburg. Im Jahr 2016 fanden 30 Betroffene den Weg zu den Mitarbeiterinnen.

Eine junge Frau verliebt sich in einen Deutschen. Ihre Eltern kommen aus einem anderen Land, die Familie will das Paar auseinanderbringen. Bei der Awo-Fachstelle Vera erinnert man sich noch ganz genau an den ersten Fall einer Frau, bedroht von sogenannter ehrbezogener Gewalt. Die Fachstelle gibt es bereits seit 2000. Sozialarbeiterin Laura H., die in Wirklichkeit anders heißt, macht sich seit dreieinhalb Jahren stark für Frauen, die zwangsverheiratet werden sollen oder Gewalt im Namen der Ehre erfahren.

Deswegen muss Laura H. auch anonym bleiben, genau wie der Ort, wo sich ihr Büro in Magdeburg befindet. Die Gefahr, dass Familienangehörige nach ihr und vor allem nach den jungen Frauen suchen, die sich aus den Zwängen ihrer Familie befreien wollen, ist groß. „Bevor die Frauen zu uns kommen, liegt fast immer ein langer Leidensweg hinter ihnen“, sagt Laura H.

Es seien Frauen, die oft in völlig behüteten Familien aufwachsen, in Deutschland ihren Platz und Freunde gefunden haben. Es sind Frauen mit einem Migrationshintergrund, sie selbst oder zumindest ihre Eltern kommen aus einer anderen Kultur. 2016 reichten die Herkunftsländer der Betroffenen von Syrien, Irak über Saudi Arabien und Russland bis hin nach Pakistan und Albanien.

Die traditionellen Familienwerte würden den Werten in Deutschland oft entgegenstehen, erklärt Laura H. Erkennen das die Frauen und wollen sich aus dem traditionellen System ihrer Familie lösen, ist für die Vera-Mitarbeiterinnen die wichtigste Frage: Wie gefährlich kann es für die Frauen werden? „Die Frauen selbst kennen ihre Familien am besten“, sagt Laura H. Die Sozialarbeiterin spricht von Drohungen, Schlägen und vollständiger Kontrolle. Und sie spricht sogar von Mord im Namen der Ehre – erst vor zwei Jahren wurde eine junge Syrerin in Dessau von ihrem Vater getötet.

Als Allererstes kümmert man sich bei Vera um die Sicherheit. Entscheidend dafür ist das Alter der Opfer – den Begriff „Opfer“ benutzt Laura H. nicht gern. Die Frauen, die sich für Hilfe entscheiden, seien so viel mehr, würden Mut und Stärke beweisen. Die jüngste Betroffene in der Laufbahn von Laura H. war 14 Jahre alt. In so einem Fall spiele das Jugendamt eine wichtige Rolle. Gemeinsam fällt dann die Entscheidung: Wo kommen die Mädchen sicher unter?

Die 40-Jährige erzählt von Wohnprojekten, in anonymen Unterkünften, deren Adresse keiner kennt. Dort gelten hohe Sicherheitsbestimmungen, es gibt direkte Verbindungen zur Polizei und oftmals dürfen Handys nur unter bestimmten Bedingungen benutzt werden. Es gehe „familienähnlich“ zu – für Mädchen, „die aus so engen Familienkreisen kommen, ist das besonders wichtig“, sagt Laura H. Für ältere Frauen sind die Frauenhäuser eine Option. Wenn bereits Kinder im Spiel sind, liege vor den Frauen ein harter Kampf. Laura H.: „Traditionell gehören die Kinder oftmals zur Familie des Mannes.“

Genau diese „traditionellen, patriarchalischen“ Werte seien Auslöser sowohl für Zwangsheirat als auch für Gewalt im Namen der Ehre: Der Mann ist das Oberhaupt, die Frau sein Besitz. 30 Frauen aus Sachsen-Anhalt haben sich deswegen 2016 an Vera gewandt, vor zehn Jahren waren es gerade mal acht. Mit den Flüchtlingen, die in den vergangenen Jahren nach Magdeburg kamen, stiegen auch die Fallzahlen. Die Betroffenen, mit denen die Fachstelle im letzten Jahr zu tun hatte, kamen zum Großteil aus muslimisch geprägten Ländern. „Die Religion ist aber nicht ausschlaggebend“, sagt Laura H. Zwangsehen gebe es genauso in Indien oder anderen asiatischen und afrikanischen Ländern.

Frauen in solchen Strukturen „müssen als Tochter, Ehefrau, Hausfrau und Mutter unzählige Anforderungen erfüllen“. Und dazu gehöre eben, dass die Töchter schon früh wissen, wen sie einmal heiraten sollen, erklärt Laura H. Um Liebe gehe es bei der Wahl eher nicht. Die Sozialarbeiterin nennt die Gründe, die zählen: Ansehen, finanzielle Sicherheit und Bindung zum Herkunftsland. Die Eltern seien oft der Überzeugung, sie tun mit so einer Entscheidung etwas Gutes für ihr Kind. Und genau deswegen hätten die Mädchen oft ein schlechtes Gewissen, fühlen sich zu verbunden, um aus dieser Situation zu fliehen.

Hinter jeder Zwangsheirat steht auch ein Mann. „Für sie gibt es bedauerlicherweise noch keine speziellen Projekte“, sagt Laura H. Und erklärt, woran das liegen könnte, dass sich nur so wenige Männer gegen eine Zwangsehe wehren: Es gibt auch Druck auf die Männer, aber der Leidensweg für die Frauen sei ein anderer, sie müssten oft die Schule abbrechen und würden auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter reduziert und müssten häufig körperliche, psychische und sexualisierte Gewalt erleiden. In den Beziehungen gibt es Laura H. zufolge ein klares Machtgefälle, Männer beenden Schule und Ausbildung, können weiter ihr soziales Umfeld pflegen und selbstbestimmt weiterleben.

Um solche Lebensläufe abzuwenden, muss Zwangsheirat und Gewalt im Namen der Ehre mehr und mehr zum Thema werden, finden Laura H. und ihre Mitstreiterinnen. Erzählt zum Beispiel ein junges Mädchen in der Schule, dass sie demnächst heiraten soll oder schon weiß, wer mal ihr Ehemann wird, ist eine schnelle Reaktion gefragt. Deswegen haben die Mitarbeiterinnen auch schon Seminare für Polizisten gegeben.

Taucht so ein Fall auf, würden die Beamten sich mit den Opfern unterhalten und den strafrechtlichen Rahmen prüfen, erklärt Polizeisprecher Mike von Hoff. In den letzten drei Jahren sind bei der Polizeidirektion Nord drei Fälle in Sachen Zwangsehe aufgelaufen. „Gemeinsam mit den Kommunen und Fachstellen wie Vera“, sagt von Hoff, „wird dann geprüft, wie die Frauen zukünftig geschützt werden können.“ Bei den aktuellen Fällen habe es sich immer um Zwangsheirat „noch im Versuchsstadium“ gehandelt.

Es gibt Frauen, die werden in Deutschland getraut und es gibt Frauen, die werden für die Hochzeit ins Ausland „verschleppt“, zählt Laura H. auf. Sie ist froh darüber, dass in den vergangenen Jahren immer mehr Frauen von allein den Weg zu ihrer Fachstelle gefunden haben.

Was Laura H. aber bis heute die Arbeit schwierig macht, sind die Hürden in den Behörden. Zum Beispiel: Aufgrund von Auflagen im Hinblick auf den Wohnsitz könne man Migrantinnen nur unter besonderen Umständen in einem anderen Bundesland unterbringen – trotzdem eine Gefahr von Familienmitgliedern in der Nähe ausgeht.

Bisweilen ist jede Menge Ausdauer mit den Behörden gefragt. Auch würden psychologische Behandlungen für die Betroffenen nur in den seltensten Fällen unterstützt. „Die Auseinandersetzungen und das Warten auf Entscheidungen kosten den Frauen einiges an Kraft“, spricht Laura H. aus Erfahrung. Kraft, die die Frauen so dringend für ihren Schritt in ein selbstbestimmtes Leben brauchten.

Auf der politischen Ebene müsste viel mehr passieren, findet die Sozialarbeiterin. Mit einem neuen Gesetz soll zwar das Heiratsalter von 16 auf 18 Jahre hochgesetzt und auch im Ausland geschlossene Ehen nach einer Einzelfallprüfung nur anerkannt werden, wenn beide Partner bei der Trauung volljährig waren. Doch religiöse Voraustrauungen seien trotzdem noch erlaubt. Laura H.: „Da das für die Mädchen oft die gleichen Folgen hat, ist eine religiös geschlossene Ehe für die Mädchen mindestens genauso fatal.“