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Integration Lernprozess für Schüler und Lehrer

An den Berufsbildenden Schulen in Oschersleben versuchen Lehrer, geflüchtete Jugendliche mithilfe von Sprachunterricht fit zu machen.

Von Susann Gebbert 15.12.2016, 00:01

Oschersleben l „Schokofee“ und die „persischen Prinzessinnen“. Es klingt wie aus dem Klassiker „Tausendundeine Nacht“. Schauplatz ist aber nicht der Orient, sondern ein Klassenzimmer im grauen, kalten Deutschland. „Schokofee“ ist der Spitzname von Shokofa und mit „persische Prinzessinnen“ meinen die Lehrer die drei Schwestern Laila, Amineh und Zammrot aus Afghanistan.

Sie sind die Vorzeigeschülerinnen der Integrationsklassen der Europaschule in Oschersleben. Sie rutschen aufgeregt auf ihren Stühlen in der ersten Reihe hin und her, lachen viel und melden sich auf fast jede Frage. Es kommt auch vor, dass sie nicht abwarten können, bis sie von ihrer Lehrerin Ina Schrader drangenommen werden. Dann rufen sie ihre Antworten und Fragen in das Klassenzimmer. Es platzt einfach aus ihnen heraus. Seit April dieses Jahres lernen geflüchtete, zumeist unbegleitete Jugendliche an der Europaschule Deutsch. Anfangs waren es 29 Schüler, aufgeteilt auf zwei Klassen. Heute sind es 64 Schüler in fünf Klassen. Laufend werden der Berufsschule vom Landesschul- und Landratsamt neue geflüchtete Schüler zugewiesen.

Es war und ist eine Herausforderung für die Schule, einen Unterricht für Geflüchtete förmlich aus dem Boden zu stampfen. Sieben Lehrer unterrichten die Jugendlichen. Seit Oktober sind zwei Lehrer an der Schule, die nur für den Sprachunterricht zuständig sind. Vorher haben die Pauker das zusätzliche Stundenpensum quasi nebenbei gewuppt. „Der Sprachunterricht ist eine enorme Anstrengung für die Kollegen“, sagt Regina Kaupke, stellvertretende Schulleiterin an der Europaschule. Niemand habe Erfahrung darin, wie Schüler ohne Deutschkenntnisse unterrichtet werden können. Schritt für Schritt arbeiten sich die Lehrer in ein Thema ein und bringen sich vieles selbst bei. Beispielsweise fuhren Regina Kaupke und ihre Kollegen an die Berufsschule in Magdeburg, um sich ein paar Tipps geben zu lassen. Dort wurden Geflüchtete schon länger unterrichtet. Außerdem besuchten sie Messen, um an geeignetes Lehrmaterial zu kommen. Fortbildungen gibt es wenig: „Die meisten Angebote sind für Grundschullehrer konzipiert“, erklärt Kaupke.

In Sachsen-Anhalt heißt der spezielle Sprachunterricht „Deutsch als Zielsprache“ (Daz). An der Europaschule findet der Sprachunterricht im Rahmen des Berufsvorbereitungsjahres (BVJ) statt, mit dem Unterschied, dass es sich um ein BVJS handelt. Das angehängte „S“ steht dabei für „Sprachförderung“. An jede Schule kann der Sprachunterricht so gestalten werden, wie Lehrer es wollen - oder eher müssen. In der Praxis bedeutet das: Den Schulen werden schulpflichtige, geflüchtete Kinder und Jugendliche zugeordnet mit dem Auftrag, sie sprachlich fit zu machen.

Aktuell besuchen in Sachsen-Anhalt 8 178 Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund den Schulunterricht, die meisten davon sind Grundschüler. Um die Aufgabe zu stemmen, hat das Land seit dem vergangenen Schuljahr fortlaufend etwa 250 Sprachlehrer eingestellt. 50 erhielten einen unbefristeten und 200 einen bis zum Jahresende befristeten Vertrag, der jetzt teilweise verlängert wurde. „Wir wollten erst einmal sehen, wie sich die Schülerzahlen entwickeln und haben daher viele Lehrer nur befristet eingestellt“, heißt es seitens des Landesschulamtes.

So ist es auch bei Kristin Klinkau. Die 32-jährige Magdeburgerin hat gerade ihr Referendariat beendet und arbeitet seit Ende Oktober an der Europaschule als Sprachlehrerin. Studiert hat sie Berufsschullehramt für Wirtschaft und Ethik. Für die Lehrerin ist das Aufgabenfeld neu, ein Sprung ins kalte Wasser. „Es gab zu dem Zeitpunkt keine andere Stelle“, berichtet Kristin Klinkau. Deshalb bastelt sie jetzt Namensschilder, verteilt Smileys und hört sich die vielen, meist traurigen Fluchtgeschichten an. Ihr Vertrag an der Schule sollte auch am 31. Dezember enden. Nach einem Antrag der Europaschule darf sie doch bis zum Ende des Schuljahres bleiben. „Wir konnten nachweisen, dass wir Frau Klinkau weiterhin für den Sprachunterricht brauchen. Die Schüler werden ja nicht weniger zum Ende des Jahres“, so Regina Kaupke. Ob Kristin Klinkau bleibt oder die Schule für einen unbefristeten Vertrag wechselt, ist noch unklar. Aber eins steht fest: Sie möchte Wirtschaft und Ethik unterrichten und Sprachunterricht allenfalls nebenbei.

Amadou Bah aus Mali ist 16 Jahre alt. Er gehört wie Shokofa und die „persischen Prinzessinnen“ zu den leistungsstärkeren Schülern der Klasse. „Das Sprachniveau ist innerhalb der Klassen oft sehr unterschiedlich“, erzählt Kristin Klinkau über eine der größten Herausforderungen für sie. In ihrem Unterricht erklärt sie lebenspraktisch Dinge: Woher bekommt man in Deutschland sein Geld? Wie wird hier telefoniert? Wie funktioniert die Post?

16 Stunden in der Woche haben die Jugendlichen der BVJS-Klassen Deutsch, in zwei weiteren lernen sie Grundsätzliches über Hauswirtschafts-, Agrar- oder Metallberufe und zwei Stunden haben sie Sport. Anfang der Woche haben die Geflüchteten eine Vergleichsarbeit geschrieben. Wenn sie gut abschneiden, können Shokofa, die „persischen Prinzessinnen“ und die anderen Jugendlichen vielleicht irgendwann das normale Berufsvorbereitungsjahr besuchen und gemeinsam mit deutschen Jugendlichen lernen. Denkbar wäre bei sehr guten Leistungen auch ein Wechsel auf das Gymnasium.